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Der sinnvolle Umgang mit Leerzeiten

Haben Sie manchmal das Gefühl, immer an der langsamsten Warteschlange anzustehen? Ärgern Sie sich, wenn jemand Sie warten lässt und damit Ihre Lebenszeit vergeudet? Wir bieten Ihnen einige Erklärungen und Tipps zur Abhilfe.

Kurz vor Weihnachten ist der Stress besonders schlimm. Alles, was im Jahr versäumt wurde, muss nun noch erledigt werden – von unliebsamen Arbeitsaufgaben bis zu Geschenkekäufen. Da ist die Zeit besonders knapp – und gerade da müssen wir sie in extralangen Warteschlangen vertun. Denn wir sind nicht die einzigen, die in den letzten Wochen des Jahres besonders viel um die Ohren haben. Den anderen geht es genauso. Aber wem gelingt es schon, den anderen als Leidensgenossen mit Verständnis zu begegnen? Sie sind Konkurrenten um das knappe Gut Zeit. Warum müssen die ausgerechnet zur selben Stunde einkaufen wie ich?

Warten strapaziert die Geduld. Schuld daran ist unser subjektives Zeitempfinden, das an Urwaldbedingungen angepasst ist, aber nicht an die moderne Zivilisation mit Supermarktkassen und exakten Uhren. Unter den kargen Lebensbedingungen der Ursavanne konnte nur überleben, wer ständig auf der Suche nach Nahrung war. Solange der Mensch aktiv war, verging für sein Gefühl die Zeit wie im Fluge, und er fühlte sich gut und erfolgreich. Tätigkeit hat das Gehirn emotional belohnt. Blieb er untätig, machte sich Unruhe breit, die Zeit dehnte sich für sein Gefühl ins Unendliche. Nur ein Aufbruch zu neuer Jagd schaffte Abhilfe. Damit war gesichert, dass unsere Vorfahren sich nicht mehr ausruhten als unbedingt nötig. Erzwungene Wartezeit – auf eine sich verspätende Verabredung oder in einer Warteschlange – macht uns kribblig. Nicht die verlorene Zeit stört uns, sondern die Untätigkeit.

Wer etwas zu tun hat, denkt nicht an die Zeit. Sondern an das, was er tut. Beim Warten rückt dagegen die Zeit selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Und damit die Frage: Wie kann ich Zeit sparen? Das Warten macht aber klar, dass man gerade dabei ist, beim Zeitsparen zu scheitern. Warten ist daher ein Misserfolgserlebnis. Doch das ändert sich sofort, wenn der Akt des Wartens eine Belohnung nach sich zieht. Etwa in der DDR. Viele knappe Güter bekam nur, wer bereit war, Wartezeit zu investieren. Unter solchen Bedingungen erschien Warten als sinnvoll. Aber auch da wirkten die Mitwartenden als Konkurrenten, nicht als Leidensgefährten. Wenn nun der Vordermann das letzte Exemplar der begehrten Ware einsacken würde?

Auch ältere Westdeutsche erinnern sich bei Warteschlangen noch an Mangelzeiten, in den Jahren nach 1945. Die gefühlsmäßige Verbindung zu Mangel ist kaum zu vermeiden. Das kommt auch heute noch vor, etwa wenn für ein Fußballendspiel nur halb soviel Eintrittskarten vorhanden sind wie Interessenten anstehen. Soziologen fanden einige interessante Phänomene, die sich in Warteschlangen herausbilden:

1. Bestimmte Regeln werden ohne Absprache akzeptiert. Personen, die lange vor Kassenöffnung kommen, um sich eine Position weit vorn zu sichern, kommen meist in Gruppen. Sie entwickeln ein „Platzhalter“-System, also je einer steht für mehrere an, wobei sich die Platzhalter abwechseln. Vordrängler versuchen ihr Glück erstaunlicherweise meist nur im hinteren Teil der Schlange, nicht am viel attraktiveren Anfang.

2. Lässt man Wartende schätzen, an welcher Position der Schlange sie sich befinden, so wissen die Vorderen recht genau Bescheid. Weiter hinten jedoch beginnen die Wartenden die Zahl der Vordermänner erheblich zu überschätzen. Müssen die Leute am Ende der Schlange damit rechnen, dass die Zahl der Eintrittskarten für sie nicht reicht, wird der Wunsch Vater des Gedankens. Sie unterschätzen die Zahl der vor ihnen Stehenden.

3. Haben Sie schon einmal überlegt, dass ein weiteres Warten nicht lohnt und sind gegangen? Normalerweise sollte man sich dabei nur von der Zahl der vor einem Stehenden leiten lassen. Doch Forscher aus Hongkong fanden, dass auch die Zahl der nach einem Wartenden diese Entscheidung beeinflusst. Je mehr Leute hinter einem stehen, desto geneigter ist man, in der Schlange zu bleiben. Klar, werden Sie jetzt sagen, ich will schließlich beachten, wie lange ich bei einem erneuten Anstehen warten müsste. Das ist aber nicht der Grund, fanden die Forscher heraus. Sie boten Wartenden die Wahl zwischen Weiter-warten oder gegen Extragebühr an einen Express-Schalter zu gehen. Wiederkommen war dagegen nicht möglich. Auch in diesem Fall richtete sich die Entscheidung nach der Zahl der Hintermänner und -frauen. Der Grund für den Rückwärtsvergleich ist vielmehr: Man vergleicht sich mit den Leuten, die noch schlechter dran sind als man selbst. Sind das viele, ergibt das ein gutes Gefühl – eine kleine Schadenfreude: „Die müssen noch länger warten als ich.“ Das lässt das eigene, kürzere Warten erträglicher erscheinen.

Wer Leute warten lässt, übt Macht aus. In aller Welt ist es immer der Höhergestellte, der damit demonstriert, das seine Zeit wertvoller ist als die des Wartenden:

* Wer zum Rendez-vous grundsätzlich als Zweite(r) und zu spät kommt, ist nicht einfach ein unpünktlicher Charakter. Er verschafft sich – wenn vielleicht auch nur unbewusst – einen kleinen Machtvorsprung, der Einfluss auf die künftige Beziehung hat. Abhilfe: Vorher ankündigen „Ich werde nicht länger als eine Viertelstunde warten“ und diese Versprechen halten.

* Wer Angestellte oder Geschäftspartner zu sich bestellt und erst einmal warten lässt, hat sich schon einen Verhandlungsvorteil verschafft. Abhilfe: Verabredung an einem neutralen Ort. Falls das nicht geht, nach angemessener Zeit mit der Sekretärin einen neuen Termin vereinbaren und gehen. Wenn auch das nicht geht (Sie sind Angestellte(r) und vom Chef vorgeladen) Arbeitsunterlagen mitnehmen, sofort auspacken und intensiv arbeiten. Ruft die Sekretärin Sie dann endlich zum Chef, sagen Sie „Moment, ich muss noch diese Absatz beenden.“

* Behörden zeigen durch ihr Wartesystem, wie sie ihre Klienten beurteilen. Auf Arbeits- und Finanzämtern lässt man Sie eine Wartenummer ziehen und erklärt Sie damit zur anonymen Zahl. Damit Sie bloß nicht die Beamten daran erinnern, dass die von den Geldern leben, die Sie und Ihre Mitwartenden erarbeitet haben.

* Supermärkte könnten zumindest außerhalb der Stoßzeiten so viele Kassen besetzen, dass Sie gar nicht warten müssten. Das würde aber so aussehen, als wäre der Supermarkt nicht gut besucht. Um diesen Eindruck zu vermeiden, sorgen clevere Manager dafür, dass immer drei bis vier Leute vor Ihnen warten. Deshalb werden offene Kassen künstlich verknappt. Wir als Kunden müssen diese Imageprofilierung mit Lebenszeit bezahlen.

* Wenn Sie sich in einem Spezialgeschäft als interessierter Kunde zeigen, wird man den Eindruck erwecken, dass man eilig um Ihre Wünsche bemüht ist. Doch wehe, Sie kommen wegen einer Reklamation! Dann lässt man Sie warten, unter dem Vorwand, den Geschäftsführer rufen zu müssen. Solange, bis Sie aus der Haut fahren. Denn wenn Sie unsachlich werden, hat der Verkäufer Oberwasser. Mögliche, aber aufwändige Abhilfe: Gehen, anrufen und einen Termin verlangen. Kommen Sie dann mit Verstärkung (zwei Zeugen) wieder.

Dass die eigene Schlange immer als längste erscheint, hat auch mit der Ohnmacht der Wartenden zu tun. Man sieht die Länge, aber nicht die vielen Faktoren, die Einfluss auf das Vorrücken haben. Der eine bezahlt mit Karte, der hat zweite vergessen, sein Obst abzuwiegen, der dritte entdeckt eine schadhafte Packung. Unternehmen, die sich als moderne Dienstleistungsgesellschaften verstehen wollen – wie die Post – haben deshalb das amerikanische System eingeführt. Es gibt nur eine Schlange, deren vorderes Ende sich auf die verschiedenen Schalter verteilt. Der Nachteil: die Schlange wirkt sehr lang. Vorteil: sie rückt schnell vorwärts und der Ärger, dass man sich nicht an der Nebenschlange angestellt hat, entfällt.

Einzige, aber wirkungsvolle Taktik gegen das ewige Warten: Beschäftigen Sie sich sinnvoll. Haben Sie immer ein Buch dabei. Damit sind Sie auch gegen unerwartete Wartezeiten gewappnet. Die sind bekanntlich immer die ärgerlichsten. Lösen Sie Denksportaufgaben, pauken Sie Vokabeln oder machen Sie kleine Körperübungen (Muskeln anspannen, Stretching). Oder knüpfen Sie mal mit der Person vor oder hinter Ihnen ein Gespräch an. Prima Einstieg: „Sie warten auch nicht gern, oder?“ Meist entpuppt sich der Wartekonkurrent als angenehmer Zeitgenosse. So ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht kommt auf Dauer billiger als die häufigste Wartelösung – der Griff zum Handy.

Dezember 2004 © by www.berlinx.de

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