Wie erkenne ich, was andere denken?
Obwohl wir nicht in andere Köpfe hineinschauen können, versuchen wir ständig zu erraten, was unser Gegenüber denkt, fühlt und als nächstes tun wird. Vergeblich? Oder gibt es Tricks, um fremde Gedanken aufzuspüren?
Das erste Date. Attraktiv sieht er ja aus – aber wie findet er mich? Hat er ernste Absichten oder sucht er nur die schnelle Affäre?
Sie müssen dieses Jahr im Juni Ihren Urlaub nehmen – und da hat Ihre Mutter sechzigsten Geburtstag. „Natürlich, fahr nur nach Malta“, sagt sie Ihnen am Telefon. Hat sie wirklich Verständnis oder wird sie ewig gekränkt sein?
Sie haben den neuen Kollegen eingeladen, mit zum Kegelabend zu kommen. Ihre Kumpels reagieren freundlich – aber irgendwie haben Sie das komische Gefühl, einen Fauxpas begangen zu haben. Wieso eigentlich?
Wie schön wäre es, in solchen Momenten direkt die fremden Gedanken lesen zu können. Zum Glück geht es nicht. Wieso „zum Glück“? Stellen Sie sich vor, Sie könnten mithören, was anderen durch den Kopf geht. Dann könnten diese anderen auch Ihnen beim Denken zuhören. Wären Sie damit einverstanden?
Trotzdem, manchmal wüssten wir gern genauer, woran wir sind. Und es gibt begabte Menschenkenner, die recht treffsicher die verborgenen Motive und zu erwartenden Reaktionen Ihrer Mitbürger einschätzen können. Doch Tests zeigten, dass auch die Profis viele Fehler machen. Selbst langjährige Paare und Freunde irren sich oft. Jeder von uns besitzt ein verborgenes Inneres, das anderen verschlossen bleibt.
Dennoch besitzen wir prinzipiell die Fähigkeit, uns in andere einzufühlen. Ohne sie wären wir im sozialen Miteinander hilflos. Wir würden ständig in Fettnäpfchen treten. Herauslesen, woran andere gerade denken – dieses Talent lässt sich trainieren. Bei Managern, Therapeuten und Polizisten ist es Teil der Aus- oder Weiterbildung. Was können Sie tun, um Ihre Treffsicherheit zu erhöhen?
Schieben Sie alle Vorannahmen beiseite. Wir begegnen einander nicht unbefangen. Wir schleppen viele Vorurteile mit uns herum. Wir nutzen zum Beispiel, was gute Freunde oder Kollegen uns über den Neuen verraten haben. Oft Klatsch und Tratsch aus dritter Hand. Und wenn wir keine Vor-Information haben? Dann meinen wir zu wissen, wie „Frauen“ und „Männer“ grundsätzlich sind. Wir haben Meinungen über Ausländer, Blondinen, Teenager auf Rollerblades, alte Frauen mit Hunden, Krankenschwestern, Hausmeister und viele andere Gruppen. Schieben Sie all das beiseite. Versuchen Sie die Haltung eines neugierigen, naiven, unwissenden Kindes einzunehmen. Beurteilen Sie nur, was Sie im Moment sehen und hören.
Bleiben Sie innerlich neutral. Wir lassen uns nur zu gern vom Wunschdenken mitreißen. Ich finde den anderen sympathisch – also hoffe ich, dass auch er gut von mir denkt. Oder ich misstraue meinem neuen Chef. Dann vermute ich: Sicherlich hegt er allerlei schlechte Gedanken über mich. In Wahrheit denken die anderen viel weniger über mich nach als ich glaube. Sie sind viel mehr mit sich selbst beschäftigt als mit mir. Sie denken darüber nach, wie sie ihre Ziele erreichen und auf andere wirken. Versuchen Sie also die Position eines entspannten Beobachters zu wahren. Beurteilen Sie fremdes Verhalten, als ständen Sie außerhalb. Zum Beispiel wie ein Fernsehzuschauer.
Nehmen Sie mehr wahr als nur den ersten Eindruck. Wir neigen dazu, in weniger als einer Sekunde ein umfassendes Urteil über unsere Mitmenschen zu fällen. Im ersten Eindruck beurteilen wir vor allem, ob der andere uns ähnlich ist oder auf eine unangenehme Weise anders. Das heißt, wir machen unser Ich zum Maßstab des Urteils über andere. So lesen wir natürlich nicht seine Gedanken, sondern nur unsere eigenen Gedanken über ihn. Und interpretieren sie in seinen Kopf hinein. Nehmen Sie sich Zeit, einige Sekunden länger zu beobachten. Machen Sie nicht sich selbst zum Maßstab, sondern Ihr Gegenüber. Stellen Sie sich vor, Sie wären er. Versuchen Sie sich und Ihre Umgebung mit seinen Augen zu sehen. Weswegen ist er hier? Was könnte er fühlen? Weswegen spricht er mit Ihnen? Achten Sie auf flüchtige Details seiner Mimik, Gestik und Tonfall.
Zeigen Sie Offenheit. In der Kommunikation gilt das Sprichwort „Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es heraus“. Auch wenn Sie beim Beobachten neutral bleiben – halten Sie Ihre eigenen Gefühle und Gedanke nicht versteckt. Sagen Sie, was Sie denken und fühlen. Dann wird auch der andere sich öffnen. Zeigen Sie Neugier und reagieren Sie positiv auf alles, was der andere von sich preisgibt. Lächeln Sie. Sagen Sie: „Das finde ich aber interessant“ und „Darüber würde ich gern mehr erfahren“.
Fragen Sie nach seinen Gedanken. Sie müssen gar nicht heimlich in fremden Gedanken lesen. Die meisten Menschen sind froh, wenn sie jemandem ihre Empfindungen und Urteile mitteilen dürfen. Sie müssen nur Unterstellungen und Ausfragerei im Stil eines Verhörs vermeiden. Geben Sie sich einfach als mitmenschlich interessiert. Fragen Sie also nicht: „Denken Sie wirklich, man sollte …“ Dann fühlt der andere Ihren Vorbehalt und zieht sich in sein Schneckenhaus zurück. Statt dessen fragen Sie in neutralem Ton nach mehr Informationen: „Habe ich das richtig verstanden, dass Sie …?“ Oder direkt: „Was haben Sie gedacht, gefühlt, sich erhofft?“ Lassen Sie ihn einige Minuten erzählen. Sie werden spüren, wie er nach und nach seine Vorsicht vergisst und offenbart, was er denkt.
Spiegeln Sie sein Verhalten. Was wir fühlen, drücken wir in unserer Körpersprache aus. Es gilt auch die Umkehrung. Wenn ich eine bestimmte Haltung einnehme, erzeuge ich die zugehörigen Empfindungen. Ahmen Sie die Mimik, Gestik und Körperhaltung desjenigen nach, dessen Gedanken Sie lesen wollen. Der andere legt das linke Bein über das rechte, stützt sein Kinn auf die rechte Hand und runzelt die Stirn. Tun Sie das gleiche. Was empfinden Sie, wenn Sie sich positionieren wie er? Sie müssen diese Imitation nicht heimlich machen. Während eines Gesprächs die Köperhaltung des Gegenüber nachzuvollziehen, gilt als effektive Methode einen Gleichklang der Gefühle zu erzeugen. Verliebte erkennt man zum Beispiel daran, dass sie ihre Körpersprache unbewusst aufeinander abstimmen.
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Menschenkenntnis Andere richtig einschätzen
Körpersprache 1-3
Buchtipp:
Michael Moskowitz: Gedanken lesen. Erkennen, was andere denken und fühlen. Pendo Verlag, € 19,90
und von unserem Egonet-Autor:
Frank Naumann: Die Kunst der Sympathie. Rowohlt Taschenbuch, € 8,90
veröffentlicht im März 2009 © by www.berlinx.de
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