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Die Kunst, Statistik richtig zu lesen

In fast jedem Artikel ü­ber mensch­liches Wohl­be­finden finden Sie An­gaben, in wel­chem Maße Medi­kamente o­der Fitness­übungen Ihrer Gesund­heit nü­tzen. Doch selbst gest­andene Ärzte inter­pre­tieren diese Zah­len oft­mals falsch – wie ein neues Sach­buch des Psy­cho­logen Gerd Gi­ger­enzer zeigt.

Die Wahrscheinlichkeit, daß eine 40jährige Frau Brustkrebs hat, beträgt 1 Prozent. Eine Röntgenuntersuchung zur Vorsorge – die Mammographie – bringt einen vorhandenen Krebsherd mit 90prozentiger Wahrscheinlichkeit an den Tag. Allerdings werden auch 9 Prozent der gesunden Frauen einen positiven Befund erhalten – das heißt, die Röntgenaufnahme läßt den Arzt einen Brustkrebs vermuten, wo gar keiner vorhanden ist. Preisfrage: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Frau mit einem positiven Befund tatsächlich Brustkrebs hat?

Ob Laie oder Arzt – die meisten nennen eine Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent. Falsch! Sie liegt unter 10 Prozent! Die Verwirrung entsteht, weil in obiger „Preisfrage“ zwei Personengruppen vermengt werden:

  1. Alle 40jährigen Frauen, die sich untersuchen lassen,

    und

  2. Diejenigen unter ihnen, die Brustkrebs haben.

Rechnen wir kurz nach: Wenn 1 Prozent der Frauen erkrankt sind und 90 Prozent von ihnen mit der Untersuchung entdeckt werden, beträgt ihr Anteil an allen Frauen (den gesunden + kranken) 0,9 Prozent. Aber 9 Prozent aller Frauen erhalten die Diagnose „Brustkrebs“, obwohl ihnen nichts fehlt. Das bedeutet:

  • Insgesamt 9,9 Prozent erhalten einen Befund.
  • 0,9 Prozent sind wirklich krank.
  • 0,9 von 9,9 sind krank– das sind 9,09 Prozent, also weniger als ein Zehntel.

Daraus folgen zwei Dinge:

  1. Die Mammographie ist unverzichtbar, um Brustkrebs frühzeitig zu entdecken – lebenswichtig, da der Krebs im Frühstadium gut heilbar ist.
  2. Die Diagnose ist äußerst ungenau. Wer aufgrund der Mammographie den Befund „Brustkrebs“ erhält, ist höchstwahrscheinlich gesund. Erst weitere Untersuchungen können an den Tag bringen, ob Grund zur Besorgnis besteht.

Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat diese und andere Irrtümer beim Umgang mit Statistik in seinem Buch „Das Einmaleins der Skepsis“ gesammelt und anschaulich dargestellt. Sein Fazit: Selbst Fachleute sind für die Auswertung statistischer Informationen schlecht gerüstet. Der Grund: Unser Gehirn entstand beim Überlebenskampf von Jägern und Sammlern in der Steppe. Da hatten es unsere Vorfahren mit feindlichen Gruppen und Herden von Beutetieren zu tun, aber nicht mit Mathematik. Wir können daher gut Mengen abschätzen, aber irren uns leicht bei abstrakten Zahlen. Daraus folgt: Die Zusammenhänge über Brustkrebs sind leichter zu verstehen, wenn sie nicht in Prozenten formuliert werden, sondern als Anzahl von Menschen, etwa so:
Von 1000 untersuchten Frauen sind 10 erkrankt (1 Prozent). Von ihnen werden 9 entdeckt und können nun behandelt werden. Aber auch 89 gesunde Frauen erhalten einen Krankheitsbefund (9 Prozent von 990). Was ein falscher Krankheitsalarm bei Betroffenen für seelische Folgen, kann sich jeder leicht ausmalen.

Ob AIDS-Zahlen oder Schadstoffe in der Nahrung – Experten neigen dazu, Zahlen so darzustellen, daß sie besonders dramatisch wirken. Ein Beispiel: Bei Warnungen vor Nikotin schreiben sie oft, daß 90 Prozent der Lungenkrebsfälle bei Rauchern auftreten. Der Leser, der nicht weiter darüber nachdenkt, gewinnt den Eindruck, daß am Ende eines Raucherlebens mit Sicherheit der Krebstod steht. Das ist falsch. Über 90 Prozent der Raucher bekommen nie Lungenkrebs. (Viele von ihnen fallen jedoch frühzeitig anderen Krankheiten zum Opfer.) Die Lösung: Beide 90-Prozent-Angaben beziehen sich auf verschiedene Dinge.

Bei Schadstoffangaben (Nahrung, Umwelt) ist die Situation genauso verrückt. Wenn Sie lesen „Es wurde zweifelsfrei nachgewiesen, daß diese Substanz Krebs auslöst“ ist Skepsis angebracht. Meist gelang dieser Nachweis nur an Zellkulturen oder Mäusen. Gut, Vorsicht kann trotzdem nicht schaden. Doch im umgekehrten Falle – bei nützlichen, gesunden Stoffen – preisen die Experten vorschnell Dinge als wertvoll an, die in Wahrheit nur Geld kosten. Ein Beispiel:

Grüner Tee gilt als gesund, weil er sehr viel Polyphenole enthält. Das sind sekundäre Pflanzenstoffe, die als Antioxidantien freie Radikale neutralisieren. Sie sollen damit Alterungsprozesse aufhalten und Krebs vorbeugen. Bei Zellen gelang der Nachweis: Tränkt man Krebszellen in einer Schale mit Polyphenolen, kommt das Tumorwachstum zum Stehen. Jüngst versuchten Forscher die gleiche Wirkung bei Menschen zu finden – die WDR-Sendung „Quarks & Co.“ berichtete darüber am 10. Dezember 2002. Die Versuchspersonen tranken jede Menge Tee. Anschließend wurden die Polyphenole in Blut und Urin gemessen. Das Ergebnis enttäuschte. Die Werte verbesserten sich so gut wie gar nicht.

Der Grund ist leicht zu verstehen. Polyphenole sind äußerst flüchtige Stoffe, die sich schnell zersetzen, sobald sie die schützenden Gewebe der Teepflanze verlassen. Das einzige Getränk, in denen Polyphenole tatsächlich zu wirken scheint, ist Rotwein. Der Alkohol konserviert die empfindlichen Substanzen. Daher die bessere Gesundheit der Südfranzosen und anderer Mittelmeervölker. Auch die Polyphenole in Gemüse sind wirksam. Hier sind es die starken Zellwände, die gesunde Substanzen vor vorzeitiger Zerstörung schützen.

Phenole in Tabletten, die Apotheken und Drogerien anbieten, sind daher wirkungslos.

Ein anderer Trick der Statistiker: Sie wählen ihre Zahlen so aus, daß sie möglichst groß wirken. Dadurch wirken sie sensationell. Sterben an einer Krankheit 1 Prozent der Bevölkerung und senkt eine neue Therapie die Sterberate auf 0,8 Prozent, macht das gerade mal 0,2 Prozent Unterschied – 2 von 1000. Das klingt nicht gerade aufregend. Also schreibt man: „Die Therapie senkt die Sterblichkeit um 20 Prozent.“ Was ist wohl eindrucksvoller: 0,2 oder 20? Der Trick: Man vergleicht nur die neuen 0,8 mit den früheren 1 Prozent. Und läßt das relativ geringe Risiko für die Gesamtbevölkerung einfach außer acht.

Es lohnt also genauer hinzuschauen. Große Zahlen bedeuten nicht unbedingt, daß ein großes Problem vorliegt. Fragen Sie sich immer: Hat hier jemand Äpfel mit Birnen verglichen? Gigerenzer ermutigt zu größerer Gelassenheit bei der Bewertung von Lebensrisiken. Lassen Sie sich nicht den Lebensgenuß von aufgebauschten Gefahren verderben.

Unser Lesetip:

Gerd Gigerenzer: Das Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. Berlin Verlag 2002. 406 S. EUR 22,–

Das Buch bietet eine leicht verständliche Einführung in statistisches Grundwissen. Es wurde 2002 als „Wissenschaftsbuch des Jahres“ in der Kategorie Wissen von Bild der Wissenschaft ausgezeichnet.

Veröffentlicht im Februar 2003 © by www.berlinx.de

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