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Was Worte über unser Denken ent­hüllen

Was ist unsere Welt? Lange Zeit kannte die Philo­sophie nur zwei Alter­nativen – die äußere Wirk­lichkeit und die Innen­welt unseres Bewusst­sein.
Vor hundert Jahren ent­deckte sie eine dritte Alternative– unsere Sprache.

Was wir von den Gedanken anderer wissen, können wir nur aus ihren Äußerungen erfahren. Denn niemand kann direkt in ein fremdes Bewusstsein hinein­schauen. Umgekehrt bleibt Ihr Innersten für andere verborgen – es sei denn, Sie sagen laut, was Sie denken.

Sprache ist nicht nur ein Verständi­gungsmittel. Sie ist auch unser Denk­werkzeug. Unser Denken wird durch die Wörter unserer Sprache geformt – und begrenzt. Wir können klare Schlüsse nur dann ziehen, wenn wir unsere Gedanken in Begriffe fassen können. Fehlen uns die Worte, bleibt es bei verschwom­menen Em­pfindungen.

Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt, meinte 1921 der Öster­reicher Ludwig Wittgenstein. Er ist der berühm­teste Vertreter der Sprach­philosophie. Seine radikale Schluss­folgerung lautete: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
Freilich können wir manche Gedanken auch über unser Verhalten mitteilen. Sprache ist nicht alles. Im Alltag unter­schätzen wir dennoch häufig ihren Einfluss auf unser Denken. Zum Beispiel beeinflussen Fernsehen & Co. uns nicht nur durch ihre Bilderflut, sondern auch durch ihren Wortgebrauch.

Eine hervor­ragende Übung in Philosophie besteht darin, öffent­liches Reden kritisch zu untersuchen. Der Sprach­gebrauch verrät oft mehr über den Zeitgeist als umfang­reiche Gesellschafts­analyse. Zur Anregung liefern wir Ihnen fünf Beispiele:

„Kleinster gemein­samer Nenner“: Wir oft hören wir, Kontrahenten hätte sich in schwierigen Verhand­lungen auf den kleinsten gemein­samen Nenner geeinigt. Das klingt einer mathema­tischen Operation, nach rationalen Gesprächen, bei denen Vernunft und Logik entscheiden. In der Mathematik jedoch kennt man entweder den „größten gemeinsamen Nenner“ oder das „kleinste gemeinsame Vielfache“. Der kleinste gemeinsame Nenner ist eine Banalität, nämlich die Zahl 1. Jede beliebige Zahl, die man durch diesen Nenner teilt, ergibt wieder die ursprüngliche Zahl. Beispiel: 100 geteilt durch 1 ergibt 100. Den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, ist also eine höchst überflüssige Operation. Ihr Ergebnis lautet: Alles bleibt beim Alten. Die Rede­wendung vom kleinsten Nenner war ursprünglich ironisch gemeint. Sie beschrieb den Versuch, Unver­einbares als vereinbar zu verkaufen. Beim vielfachen Nach­plappern über Jahre ging die Ironie verloren.

„Quantensprung“: Steht eine plötzliche Riesen­veränderung ins Haus, reden Journalisten gern vom Quanten­sprung. In der Physik ist der Quantensprung jedoch genau das Gegenteil, nämlich der kleinstmögliche Abstand zwischen zwei Energie­niveaus auf atomarem Niveau. Seine Größe wird durch das Plancksche Wirkungs­quantum bestimmt. Der Quanten­sprung ist unvorstellbar klein und beträgt etwa 6,625 x 10-34 Ws2 (Watt mal Sekunde im Quadrat). Oder anders geschrieben 0, 00… (30 Nullen) … 06625. Ein Quanten­sprung ist eine Veränderung, die unbemerkt bleibt. Wer also vom Quanten­sprung redet versucht bloß, aus einer atomaren Mücke einen kosmischen Elefanten zu machen.

„Dramatisch“: Seit etwa drei Jahren erleben wir eine drama­tische Inflation des Wortes „dramatisch“. Von einem Drama spricht man, wenn sich ein Konflikt zwischen zwei Gegnern so zuspitzt, dass es um die Existenz, um Leben und Tod geht. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern kann sich dramatisch zuspitzen. Aber „die Zahl der Neuer­krankungen stieg dramatisch an“ zeigt nur eins – den Hang des Sprechers, mit maßloser Übertreibung um Aufmerksamkeit zu betteln. Zahlen kennen keine Dramatik, sie können sich bestenfalls „stark“ erhöhen. Manchen ist inzwischen das Wort „dramatisch“ schon nicht mehr dramatisch genug. Sie sprechen dann von einer „brutalen“ Veränderung.

„Tragisch“: Tragisch ist die Macht eines Schicksals, das seine Opfer schuldlos ins Unglück stürzt. Es ist – so schrieb Aristoteles – eine „Ungerechtigkeit des Lebens gegen den Menschen“. Tragik ist selten und deshalb erschütternd. Inzwischen wird uns jeder Misserfolg als „tragisch“ verkauft. So nannte die Anne-Will-Talkshow die Abwahl von Jürgen Rüttgers in NRW eine Tragödie und die Zeiten der Griechenland-Finanzkrise „Merkels tragische Wochen“. Wenn wir jedes Scheitern an der eigenen Inkom­petenz in den Rang einer antiken Tragödie erheben – welche Worte bleiben uns dann noch, um tatsäch­liche Tragödien zu beschreiben?

„Ehemalige“ DDR: Kaum jemand spricht von der DDR, ohne das Adjektiv „ehemalige“ davor zu setzen. Nun ist in der Historie fast alles ehemalig. Doch haben Sie schon mal jemanden vom „ehemaligen Römischen Reich“ oder den „ehemaligen Wirtschafts­wunder­jahren“ reden hören? Gibt es denn auch eine nicht-ehemalige DDR? Beim antiken Rom oder Griechenland wäre das Wort „ehemalig“ viel sinnvoller, denn beide existieren noch heute. So erhebt sich der Verdacht, der Sprecher fürchte insgeheim, die DDR könne wieder­kommen. Dieses Schreck­gespenst will er mit der Betonung der Ehemaligkeit bannen.

Bei diesen Beispielen geht um mehr als nur unsauberen Sprach­gebrauch. Sie verraten eine Menge über unsere Zeit und unser Denken:

Mangel an Aufmerksamkeit: Wir neigen zur Drama­tisierung, um uns Gehör zu verschaffen. Da aber alle es tun, müssen wir zu immer stärkeren sprachlichen Mitteln greifen, um noch durchzu­dringen. Die Fähigkeit, Nuancen und Abstufungen auszudrücken, geht verloren. Das Gemälde der Welt kann nur noch mit dickem Pinsel gemalt werden.

Verdrängungen: Wir leben in einem komfor­tablen, stabilen Staat. Doch unter­schwellig bleibt die Angst, den Wohlstand zu verlieren. Kaum jemand spricht seine Befürch­tungen offen aus, daher verraten sie sich im Sprach­gebrauch. Nicht nur die „Ehemaligkeit“ der DDR zeugt davon. Wer an der Klima­erwärmung verdient, spricht nur vom „Klimawandel“, wer sie fürchtet, von der „Klima­katastrophe“. Jüngstes Beispiel ist der Umschwung von den „kriegsähn­lichen Zuständen“ in Afghanistan zu einem „umgangs­sprachlichen Krieg“.

Unterhaltungszeitalter: Ob uns ein Sprecher gut unterhält, ist oft wichtiger für seinen Erfolg als die Wahrheit seiner Worte. Spaßeffekte leben von der Überraschung. Sie nutzen sich ab. Die Überraschung gelingt nur beim ersten oder zweiten Mal. Danach tritt Gewöhnung ein. Was einst ironisch gemeint war, bewerten wir heute als ernsthaft. Subtiler leiser Humor zieht nicht mehr. Comedians müssen zu immer gröberen Späßen greifen, um das verwöhnte Publikum noch zu begeistern.

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veröffentlicht im Juni 2010 © by www.berlinx.de

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