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Warum Regelverstöße so viel Spaß bereiten

Wir wollen gesund und vernünftig leben – und können doch der Versuchung nur schwer widerstehen. Zwei Seelen kämpfen in unserer Brust. Doch Sündigen ist nicht gleich Versagen. Auch der Regelverstoß kann gesund sein.

Morgens der sorgenvolle Blick in den Spiegel, abends der Griff nach der leckeren Praline. Vorige Woche gnadenloser Kassensturz, diese Woche für 200 Euro schicke, aber völlig überflüssige Stiefel gekauft. Letztes Jahr Treueschwüre, dieses Jahr ein One-Night-Stand, ausgerechnet mit seinem besten Freund. Sündigen – für die einen ist es eine Einflüsterung des Teufels, für die andern ein Sieg der Triebe über die Vernunft.

Die Vernunft gehorcht den Regeln der Logik. Sie sagt zum Beispiel: Du wiegst über 80 Kilo bei nur 1,75 Meter Körpergröße – nimm ab! Doch der Körper hat seine eigene Logik. Er sammelt Vorräte für schlechte Zeiten, egal, ob sie je kommen werden oder nicht. Das führt zu merkwürdigen Resultaten. Setzen Sie Ihre Vernunft rücksichtslos gegen ihren Körper durch, rächt er sich. Er sendet Hormone und Nervenbotenstoffe aus, die Ihnen Lust auf Süßes machen. Er straft Sie mit schlechter Laune, wenn Sie Ihre Diät durchhalten. Überhören Sie seine Signale, ordnet sich der Körper schließlich unter. Mit verheerenden Folgen. Er entwickelt eine Sucht aufs Abnehmen – Magersucht droht. Daher der Rat der Experten an alle Diätwilligen: Kämpfen Sie nicht gegen Ihre Gelüste. Machen Sie sie zu Ihren Verbündeten. Keine Radikalkuren, sondern gewöhnen Sie sich schrittweise Lust auf gesunde, kalorienarme Nahrung an. Und: Gönnen Sie sich ab und zu eine kleine Sünde.

Wir sind keine Logikmaschinen, sondern lebende Wesen. Und das Leben mag keinen Perfektionismus. Perfekt heißt immer: angepasst an eine ganz bestimmte Umgebung. Doch Umwelten wandeln sich – gerade heute in den Zeiten des Klimawandels für jeden sichtbar. Unvollkommen sein, ist viel besser. Es garantiert Flexibilität. Denn was in der ursprünglichen Umwelt störte, kann in der neuen Umwelt nützen. Daher sind Dinos, Mammute und Säbelzahntiger ausgestorben, aber Kleinsäuger haben überlegt und sich zum Menschen fortentwickelt.

Unsere Anfälligkeit für kleine und große Sünden ist ein Geschenk der Evolution. Sie verhindert Einseitigkeit. Bevor Sie in ein ungesundes Extrem verfallen, meldet sich ein kleines Teufelchen in Ihrem Hirn und flüstert Ihnen zu: „Jetzt reicht es. Jetzt probier mal das Gegenteil aus.“ Unter seinem Einfluss leben Sie vielleicht nicht absolut gesund. Aber es schützt sie auch davor, absolut ungesund zu leben. Auch die Wissenschaft hat in den letzten Jahren gezeigt: Kleine Sünden sind gesünder als keine Sünden. Einige Beispiele:

  • Ein Glas Wein oder Bier am Tag ist gesünder als gar kein Alkohol.
  • Schokolade, Kaffee und andere „Sünden“ enthalten Stimmungsaufheller und andere Substanzen, die in Maßen genossen gesund sind.
  • Ein wenig Obst und Gemüse ist gesund. Nur Obst und Gemüse essen, schadet nach neuesten Studien der Gesundheit eher statt sie weiter zu verbessern.
  • Menschen mit leichtem Übergewicht (BMI 25 bis 27) leben im Schnitt länger als Menschen mit Normal- oder gar Untergewicht.
  • Wer als Kind zuviel Sonne abbekam, hat ein erhöhtes Hautkrebsrisiko. Wer gar keine Sonne abbekam, ebenfalls. Gelegentliche Sonnenbäder erhöhen den Vitamin-D-Spiegel, der unter anderem für den Schutz Ihrer Zellen eine wichtige Funktion hat. Viele Sonnenbäder verdoppeln das Hautkrebsrisiko, aber senken zehnfach das Risiko anderer Krebsarten (vor allem von Brustkrebs).
  • Leistungssportler leben nicht länger als Normalbürger. Wer ein mäßig-bescheidenes Fitness­programm einhält (dafür reichen schon tägliche, flotte Spaziergänge) lebt am längsten.
  • (Safer) Sex ist gesünder als Enthaltsamkeit.
  • Stress schadet der Gesundheit, Trägheit ebenso. Am gesündesten lebt, wer sich positiv motiviert anstrengt.

Regelverstöße und Neugier sind miteinander gekoppelt. Wer gern Neues ausprobiert, tut sich schwer, feste Normen einzuhalten. Offenheit für Neues ist aber ein wichtiger Gesundheitsfaktor. Im Alter wirkt er lebensverlängernd. In der Jugend ermöglicht er sozialen Erfolg.

Sündigen ist aber nur gesund, wenn es die Ausnahme von der Regel bleibt. Wer nur noch sündigt, hat aus der Ausnahme eine neue Regel gemacht. Dann wird es Zeit, Nichtsündigen als Regelverstoß auszuprobieren!

Veröffentlicht im Februar 2007 © by www.berlinx.de

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