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Sich gekonnt selbst darstellen heißt: Erfinden Sie sich neu!

„Sie hat Stil!“ Wer mit diesem Kompliment bedacht wird – verfügt sie über Intuition, ein Geheimwissen oder einfach über ein glückliches Händchen? Nichts von alledem. Stilempfinden läßt sich trainieren wie Autofahren. Am Anfang muß man höllisch aufpassen, um keinen Unfall zu bauen, aber nach einiger Übung tun Sie ohne Nachdenken automatisch das Richtige.

Einige scheinen damit geboren zu sein. Ob lässig oder großer Auftritt, immer tragen sie das Passende, wirken stets wie sie selbst und nie verkleidet – selbst ihre Stilbrüche haben Stil. Andere greifen zielsicher daneben; was sie auch anziehen, es sieht verboten aus. Ihr Auftritt ist ein dauernder Fasching. Sie wechseln zwischen Girlie, Punk, Westernmanier und sehen immer kostümiert aus. Warum überzeugten dann Madonna in ihren Anfangsjahren als Girlie, die Toten Hosen als Punks und Charles Bronson als Westernheld?

Ein Blick in die Historie verrät das Geheimnis. Die ältesten Stile unserer Kultur, deren Zeugnisse wir noch heute bewundern können, sind die Baustile von der Romanik bis zum Klassizismus. Wir bestaunen die Kathedralen von Chartres bis Magdeburg als architektonische Meisterleistungen der Gotik. Über die neugotischen Imitate des 19. Jahrhunderts, die in jüngeren Stadtvierteln stehen, spricht kaum noch jemand. Das heißt:

  • Echter Stil ist originell. Bloße Nachahmung wirkt laienhaft und ist für Außenstehende sofort als zweitklassig zu erkennen.
  • Echter Stil drückt den Zeitgeist und die Individualität aus. Das Äußere ist ein kreatives Spiegelbild des Innenlebens.

Stil setzt daher Selbsterkenntnis voraus. Und die Fähigkeit, Inneres äußerlich darzustellen. Stil haben heißt:

  • Einen persönlichen Standard zu finden, der im Wechsel von sportlich bis elegant, von tiefem Dekolleté bis zugeknöpft, immer erkennbar bleibt. Die Moden gehen vorüber wie das Plätschern von Oberflächenwellen, während der Stil die Ruhe des darunter liegenden Ozeans darstellt.
  • Sich zum Gesamtkunstwerk umzubilden. Der Stil durchdringt nicht nur die Kleidung, sondern auch das Handeln, die Lebensprinzipien, die Wohnung, die Arbeit, den Umgang mit Freunden, die Liebe … Anders ausgedrückt: der Arbeitsstil, der Gesprächsstil, der Wohnstil – alle folgen den gleichen Eigenheiten der Person.
  • Den Mut, Zeitströmungen zu widerstehen. Man legt eine Mode an und wieder ab wie ein neues Kleid, läßt sich aber von ihr nicht durchdringen. Man nimmt aus der aktuellen Mode, was zum eigenen Stil paßt, gestattet ihr aber niemals, die eigene Manier zu verwässern.

Seinen eigenen Stil findet man nicht über Nacht. Das ist ein längerer Weg aus Versuch und Irrtum, in dessen Verlauf Sie nach und nach ihre äußere Wirkung ihrem inneren Kern angleichen werden. Ihr Weg führt über folgende Etappen:

Selbst-Befragung. Kennen Sie sich gut? Wissen Sie, wie Sie auf andere wirken? Achten Sie darauf, wie andere auf Sie reagieren? Fragen Sie Leute, die Sie gut kennen und ehrlich ihre Meinung sagen, wie sie Sie beschreiben würden. Lassen Sie in Gedanken Ihre Entwicklung seit der Kindheit Revue passieren. Nicht, was Sie von sich (gern) denken, zählt. Sondern Ihre Handlungen. Was taten Sie, was haben Sie unterlassen. Was fällt Ihnen leicht, was schwer. Wo liegen Ihre Stärken.

Stil-Kunde. Kaum jemand findet seinen Stil aus spontaner Intuition heraus. Ohne Interesse an Mode und den Stilen der anderen läuft nichts. Lesen Sie Bücher und Artikel über Stile. Schauen Sie sich nach Vorbildern um, von Baustilen bis zu Persönlichkeiten mit Stil. Nicht um sie nachzuahmen, sondern Beispiele kennenzulernen, wie andere ihr Wesen gekonnt nach außen darstellten. Was unterscheidet Romanik von Gotik? Wie drückt sich darin der Wechsel von christlicher Demut zu Stolz und Stärke aus? Vergleichen Sie Ihr Wissen über Prominente mit deren Erscheinungsbild. Von Marlene Dietrich bis Harald Schmidt – wie gelang es ihnen, ihre Stärken darzustellen?

Inneres in Äußeres übersetzen. Was wäre der Stil eines Perfektionisten? Eines Chaoten? Eines Gefühlsmenschen? Eines kühlen Logikers? Fragen Sie auch Freunde nach ihrer Meinung. Der Stil sollte nicht zu offensichtlich einen Charakterzug abbilden, sondern eher in Andeutungen sprechen. Raum für Phantasie und Vielschichtigkeit zulassen. Sammeln Sie Modefotos, deren dargestellter Stil Sie anspricht. Wenn Sie einige Dutzend zusammen haben, kristallisiert sich ein Muster Ihrer Vorlieben heraus? Und welche Stile gefallen Ihnen nicht? Was erscheint Ihnen stillos? Den eigenen Stil finden heißt auch, sich gegen fremde Stile abgrenzen.

Starten Sie vorsichtig. Versuchen Sie nicht, mit schrillem Outfit mit einem Sprung von Null an die Spitze zu kommen. Das gibt unter Garantie eine Bauchlandung. Starten Sie lieber mit Understatement. Wenn Sie ein eher stiller Typ sind, zum Beispiel mit einem Outfit komplett in Schwarz. Es wirkt unterkühlt und hat den Vorteil, sich mit jeder anderen Farbe kombinieren zu lassen. Von dieser Grundlage aus können Sie nun experimentieren. Wählen Sie ein, zwei auffälligere Accessoires, die Ihren Geschmack und einen Wesenszug Ihres Charakters ausdrücken. Testen Sie, wie Sie damit ankommen.

Experimentieren. Stil und Wissenschaft haben eins gemeinsam: Wer zu neuen Erkenntnissen vorstoßen will, muß eine lange Serie von Experimenten einplanen. Als Edison nach einem Glühfaden für seine Glühlampe suchte, testete er einige hundert Werkstoffe, bis er mit Wolfram die Lösung fand. Auch Stil kommt ohne Experimente nicht aus. Genieren Sie sich nie wieder, wenn Sie im Kaufhaus ein Dutzend Teile anprobieren, ehe Sie sich entscheiden. Im Gegenteil. Betrachten Sie jedes Shopping als Lernerfahrung in Sachen Stil. Nehmen Sie Gleichgesinnte mit, die Ihnen ein Feedback geben.

Achten Sie auf Ihr Wohlgefühl. Solange Sie sich in Ihren Sachen wie verkleidet fühlen, haben Sie Ihren Stil noch nicht gefunden. Ein gutes Kriterium, ob Sie auf dem richtigen Weg sind, lautet: Ziehen Sie die etwas eleganteren Teile Ihres neuen Outfits an und gehen Sie damit einige Stunden unter die Leute. Fühlen Sie sich gut? Oder eingezwängt? Werden Sie beachtet? Reagieren Verkäuferinnen, Bekannte und Fremde positiver auf Sie als früher?

Veröffentlicht im Februar 2003 © by www.berlinx.de

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