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Die Lust am Extremen

Das Sexleben der Deutschen ist eher langweilig, aber Millionen gehen in die Kinos, um in „Fifty Shades of Grey“ den Schauer den „Über die Stränge Schlagens“ (im wörtlichen Sinne) zu genießen. Warum leben wir im Gegensatz von Traum und Wirklichkeit?

Ein Unfall auf der Autobahn. Das lädierte Fahrzeug blockiert eine der drei Spuren. Der Verkehr könnte lässig auf den restlichen zwei Spuren vorbeifließen, während die Polizei aufräumt. Statt dessen fahren die Autos immer langsamer, bis ein Stau aus dem Nichts entsteht. Nicht der Unfall ist schuld, sondern die neugierigen Fahrer. Sie verlangsamen ihre Fahrt, um genau zu beobachten, was da passiert. Nicht wenige zücken ihr Handy, um zu Hause mit Foto­strecke zeigen zu können, was sie heute Außer­gewöhnliches erlebt haben.

Die Polizei warnt vergeblich, dass ein Bußgeld von 60 Euro und ein Punkt in Flensburg fällig werden. Auch dass Unfälle gar nicht so außer­gewöhnlich sind, hindert uns nicht, daraus eine persönliche Sensation zu formen. Im Schnitt sterben täglich zehn Personen auf deutschen Straßen – so viele, dass im Fernsehen nur noch über die ganz großen Unfälle berichtet wird.

Die Lust am Außer­gewöhnlichen entstammt unserer angeborenen Alarm­bereitschaft. Wir stammen von Tieren ab, deren Leben permanent von Raubtieren gefährdet war. Jede Wahrnehmung, die vom Normalen abwich, konnte auf eine drohende Lebens­gefahr hinweisen. Wer nicht das nötige Dauerlauern auf Gefahren aufbrachte, starb aus und gehörte deswegen nicht zu unseren Vorfahren.

Unser Gehirn vermittelt uns permanent folgende gegensätzliche Botschaft:

  • Dem Gewöhnlichen und Normalen kannst du vertrauen. Du brauchst es nicht weiter zu beachten.
  • Dem Außerge­wöhnlichen und Unnormalen musst du misstrauen. Ihm musst du all deine Aufmerk­samkeit schenken.

Das führt zu einem seelischen Paradox:

  • Was uns gut tut und Vertrauen schafft, ist langweilig.
  • Was uns dagegen schaden könnte und uns in Stress versetzt, finden wir interessant.

Deshalb machen sich Menschen seit Jahrhunderten das Leben schwer:

  • Den Ehepartner kennen wir nach zwei Jahren so genau, dass er anfängt, uns zu langweilen mit seinen immer gleichen Marotten. Wir fangen an, über Ehebruch und Aufbruch zu neuen Ufern nach­zudenken. Tränen, Scheidungen und umkämpfte Kinder sind die Folge.
  • Unser Leben ist sicher. Wir müssen weder hungern noch frieren. Aber wir sind nie zufrieden. Ständig wollen wir noch mehr erreichen und bringen uns dafür unnötig in Gefahr. Auf diese Weise leben wir im Dauer­stress und ruinieren unseren Planeten.
  • Umfragen zeigen immer wieder, dass wir die Kriminalität stark überschätzen. Wir messen die Gefahr, Opfer eines sadi­stischen Triebtäters zu werden, nicht an der Realität, sondern an den zuletzt gesehenen Krimis. Drehbuch­autoren haben sie an ihren völlig sicheren Schreib­tischen konstruiert, um unsere Lust an der Angst vor dem Unbekannten wachzurufen und uns vor dem Bildschirm zu „fesseln“ – hoffentlich nur im übertragenen Sinne.
  • Wir kümmern uns um Pferdefleisch in der Lasagne, exotische Krankheiten mit einigen Dutzend Todesopfern und andere Nachrichten, die neu und medienwirksam sind. Während wir uns über die jüngste Sensation ereifern, vergessen wir unsere wirklichen Probleme, die seit Jahrzehnten ungelöst sind: Pflegenotstand, Wartezeiten auf Facharzttermine oder absinkendes Rentenniveau. Wir ängstigen uns vor Masern mit einem Todesopfer. Aber die jährliche Grippewelle mit mehr als zehntausend Toten lässt uns gleichgültig.
  • Politische Skandale sind das Geschäft der Medien und das Futter unserer alltäglichen Sensationsgier. Deswegen ist Griechenland täglich in den Nachrichten präsent, weil deren linke Regierung ständig für neue Aufreger sorgt. Andere Länder mit vergleich­baren finanziellen Problemen wir Spanien oder Zypern kommen hingegen nur selten vor. Dazu passt eine neue Studie der Goethe-Universität Frankfurt a.M.: Demokratie ist eine Frage der Gewohnheit. Die Akzeptanz wächst mit der Zeitdauer, welche wir in demokratischen Verhältnisse leben.
    (Quelle der Studie–>)

Keine Frage, Sensationen bringen Spannung in unseren langweiligen Alltag. Warum sollen wir den Nervenkitzel nicht genießen dürfen?

Wir sollten nur im Hinterkopf behalten, dass die Sensation eine Ausnahme darstellt. Im realen Leben regiert der langweilige Durchschnitt. Wenn Sie tatsächlich ständig Sensationen begegnen würden, wären es keine Sensationen mehr, sondern würden Teil eines gefährlichen Alltags. Eine Normalität, die Menschen aus Bürgerkriegsgegenden nur zu gut kennen. Sie beneiden uns um unsere langweilige Sicherheit.

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veröffentlicht im April 2015 © by www.berlinx.de

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