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Die erfolgreichsten Argumente gegen Fitnessfreaks und Kalorienzähler

Der Mitteleuropäer tritt in zwei Unterarten auf. Die Mehrheit genießt mit Appetit, bewegt sich nicht mehr als nötig und hält sich am liebsten in bequemen Sitzmöbeln im heimischen Vier-Wände-Revier auf. Die Minderheit rennt dagegen durchs Gelände, schwitzt an Kraftmaschinen, knabbert Grünzeug und betet eine Gottheit namens „Gesundheit“ an. In den Medien hat die Minderheit die Herrschaft übernommen. EGONet nimmt sich heute der geknechteten schweigenden Mehrheit an.

Wie reagieren Sie, wenn die Familie oder Freunde Sie zu einer Wanderung, einem Waldlauf oder einer Radtour auffordern? Entschuldigen Sie sich Zeitmangel, Ihrem schlauchenden Job oder Ihrer Wetterfühligkeit? Das riecht meilenweit nach Ausrede und erzeugt böses Blut. Gehen Sie in die Offensive. Tausende von ruheliebenden Vorgängern haben über Jahrzehnte die perfekten Argumente für Ihre Selbstverteidigung entwickelt.

1. Ich will sowieso nicht alt werden!

„Heute geht es mir gut, weil ich jung bin. Ich bin im Vollbesitz meiner Kräfte. Von nun an kann es nur noch abwärts gehen. Wer jung ist, ist begehrt. Wer alt ist, dem geht man aus dem Weg. Sex, Abenteuer, Schönheit – alles wird nur noch in der Erinnerung leben. Neiderfüllt auf Parkbänken hockend die unbeschwerten Jugendlichen beim Knutschen beobachten, das ist nichts für mich. Was kann mir das Alter schon bringen außer Einsamkeit, Depression, Krankheiten, Unbeholfenheit und Schwäche? Mir vergeht jetzt schon das Lachen, wenn ich nur daran denke. Nein, da genieße ich lieber den heutigen Tag statt mich anzustrengen in der Hoffnung, daß Alter könnte dadurch etwas angenehmer werden.“

Wenn jetzt noch Ihr Partner die naive Gegenfrage stellt, was Ihre Klagen über ungelegte Eier sollen, wenn es doch darum geht, heute das schöne Wetter und die blühende Natur zu genießen, brauchen Sie nur noch leidgeprüft die Augen zu verdrehen und mit schmerzerfüllter Stimme zu antworten: „Wie kann man nur so unsensibel sein, angesichts dieser Perspektiven von blühender Natur zu schwärmen!“

Wichtig ist, daß das Alter für Sie ein Schreckgespenst bleibt, was noch lange Zeit entfernt liegt – egal, wieviel Jahre Sie bereits hinter sich haben. Wenn Sie fünfzehn sind, können Sie fröhlich behaupten: „Trau keinem über dreißig.“ Mit dreißig ist es klar, daß das Alter unweigerlich jenseits der fünfzig beginnt. Als Fünfzigjährige(r) wissen Sie genau, wer noch keine siebzig ist, bleibt zumindest im Herzen jung. Und was bedeutet schon das Wort „Alter“ für Sie mit Ihren siebzig Lenzen, wenn Sie wissen, daß die Pflegeheime voll von neunzigjährigem, dahin­dämmerndem Elend sind? Und können Sie eines Tages nicht mehr verleugnen, daß Sie mittlerweile zu den Senioren gehören: Das Leben ist Veränderung. Sie haben es sich mit dem Jungsterben inzwischen anders überlegt. Wer seine Ansichten ändert, ist nicht verknöchert, sondern geistig beweglich, mit einem Wort: jung.

Sollten Ihre Gesprächspartner jedoch Ihre Entschlossenheit bezweifeln, an der Schwelle zum Alter freudig aus dem Leben zu scheiden, legen Sie den Nachdruck Ihrer Rede nicht auf das Ende, sondern auf die Jahre davor und sagen:

2. Ich lebe kurz, aber intensiv

„Ich habe gelebt und alles im Leben ausgekostet. Ich habe Frauen und Mädchen besessen, auf guten Pferden die Steppe durchquert, mich meiner Vaterschaft gefreut, Menschen getötet, selber dem Tod die Stirn geboten und mich an des Himmels Bläue berauscht. Was kann das Leben mir noch Neues bieten? Es gibt nichts Neues! Ich könnte sterben. Das schreckt mich nicht.“

Dies sind die Worte Grigori Melechows aus dem Romanepos „Der stille Don“, für das sein Autor Michail Scholochow 1965 den Nobelpreis erhielt. Sie sehen, der Gedanke, daß ein kurzes rauschhaftes Leben hundert Jahren Ereignislosigkeit vorzuziehen sei, ist nicht neu. Er verleiht Ihnen einen Hauch von rebellischer Jugend. Er appelliert an die heimlichen Sehnsüchte nach Ausbruch aus dem üblichen Trott. Mal dem Alten den Rücken kehren, mal die ganze Bagage sich selbst überlassen, statt dessen über den Highway 61 trampen und eine Nacht in den Armen von Antonio Banderas vergehen! Während sie sich voll Schadenfreude überlegt, wie ihr Ehegatte wohl ohne sie den Haushalt schmeißt und sich der quängelnden Kinder erwehrt, zieht er in seinen Träumen mit den Kumpels wie einst durch schummrige Bars und Kneipen, reißt eine rassige Blondine in Highheels und Minirock auf und kennt beim anschließenden Tête-à-tête in der Edelsuite eines Nobelhotels nicht einmal mehr Potenzprobleme.

Kurz, mit dem Argument des intensiven Lebens haben Sie die Träume Ihrer Gesprächspartner auf Ihrer Seite. Natürlich ist es nicht auszuschließen, daß Sie auf hartnäckige Skeptiker stoßen. Die vielleicht die Harmonie gemeinsamen, friedlichen Altwerdens verteidigen und Abenteurertum als Zeichen eines unsteten Charakters ablehnen. Beweisen Sie anhand tatsächlicher und erfundener Geschichten, daß Routine unzufrieden macht, während ein dauerndes Auf und Ab mit baldigem Ende ein kurzes, aber starkes Glück bedeutet:

„Denkt an James Dean, John Lennon oder Jim Morrison von den Doors? Sie sind jung gestorben, aber was haben sie bis dahin erlebt! Ein rasanter Aufstieg, ein schnelles Ende, und jetzt sind Ihre Namen Legende. Würde Marilyn Monroe als Sexsymbol par excellence gelten, wenn wir ihr allmähliches Altern hätten beobachten müssen? Glaubt ihr, irgendwer hätte Elvis Presley ein Mausoleum gebaut, wenn er mit seinem Ableben gewartet hätte, bis seine Fans, die die Gedenkstätte finanzierten, ins Altersheim gehen? Hätte Falco im letzten Jahr ein Comeback erlebt ohne seinen tödlichen Verkehrsunfall mit Anfang 40? Wurde Lady Diana nicht erst durch ihren Unfalltod zur Medienheldin Nummer Eins? Ein rauschahftes Leben ist das höchste, aber dann muß man auch konsequent bleiben und abtreten.“

3. Niemand weiß, was die Zukunft bringt

Umweltverschmutzung, Atommüll, Ozonloch, Bevölkerungs­explosion, Gesundheits- und Steuerreform – ist es angesichts dieser trüben Aussichten nicht Irrsinn, sich auf ein langes Alter und seinen hundertsten Geburtstag Mitte des nächsten Jahrhunderts vorzubereiten?

Bringen Sie mit Argument Nr. 3 wieder etwas gesunden Menschenverstand in die Unterhaltung! Auch der Alltag des Einzelnen birgt zuviel Gefahren, als daß man ernsthaft mit einer fünfzig Jahre entfernten Zukunft rechnen sollte. Sie müssen ihr Leben durchaus nicht mit Bergsteigen oder Turnübungen auf S-Bahn-Dächern in Gefahr bringen. Stellen Sie sich vor, Sie haben jahrelang gegen teure Gebühren ihren Körper dreimal wöchentlich an Kraftmaschinen und Laufbändern in Form gebracht, und eines Morgens fährt Sie auf einem Zebrastreifen ein unaufmerksamer Kraftfahrer, der mehr auf sein Handy als auf störende Fußgänger achtete, zum Krüppel. Oder sie kommen in einer Bank während eines Überfalls als Geisel zu Schaden, werden von herabfallenden Ziegelsteinen, Meteoritensplittern beziehungsweise abstürzenden Flugzeugen erschlagen oder geraten als zufälliger Passant in einen Schußwechsel verfeindeter Mafiagruppen. Nicht einmal zu Hause sind wir sicher. Gasexplosionen, Kurzschlüsse und eifersüchtige Ehepartner haben manchen Lebenskünstler schon im eigenen Heim dahingerafft. (Vergleichen Sie die täglichen Schlagzeilen der Boulevardzeitungen.) Denken wir uns die Gefahren aus eingeschleppten Tropenkrankheiten, Schiffs- und Flugzeugunglücken sowie wütenden Rottweilern aus Nachbars Garten dazu – und schon möchte niemand mehr die Garantie übernehmen, daß alle Eventualitäten bis zum hohen Alter an uns folgenlos vorübergleiten werden. Wovon sollten die Rentenversicherungs­gesellschaften denn reich werden, wenn jeder das Limit seiner statistischen Lebenserwartung voll ausschöpfen wollte?

Ihr Gegenüber ist immer noch nicht überzeugt? Eine Gesprächstaktik, mit der Sie garantiert gewinnen, heißt:

4. Gegen jede Statistik setze ich konsequent den Einzelfall!

Die gefährlichste Waffe aller Gesundheitsapostel dieser Erde ist die Wissenschaft. Es ist leider nicht zu leugnen: Leberzirrhose ist unter Alkoholikern hundertfach häufiger als unter Abstinenzlern. Mindestens neunzig Prozent aller Lungenkrebsopfer widmeten sich jahrzehntelang dem Tabakkonsum. Herzinfarkte vor der Rente treffen Bewegungsmuffel weitaus häufiger als Freizeitsportler.

Nur ein Anfänger würde angesichts solcher Zusammenhänge versuchen, die Wissenschaft madig zu machen. Mit der Statistik argumentieren, nicht gegen sie, lautet daher die Regel für Fortgeschrittene. Denken Sie nach: Gibt es nicht auch in Ihrer Verwandtschaft einen Opa, der rauchend und trinkend dreiundneunzig geworden ist? Haben Sie nicht von einem Tennisfreak gehört, braungebrannt und schlank, den ein Kreislaufkollaps plötzlich und unerwartet im zweiund­vierzigsten Lebensjahr dahinraffte?

Wenn nicht, erfinden Sie einen! Oder verweisen Sie auf irgendeine Berühmtheit. Da bietet sich zum einen der Schriftsteller Ernst Jünger an, der rauchend über hundert geworden ist. Und auf der anderen Seite der amerikanische Sportreporter und Mitinitiator der amerikanischen Jogger­bewegung, James F. Fixx, der 1986 während eines Laufwettbewerbs Opfer eines Herzinfarkts wurde. Oder wie wäre es mit Winston Churchill, Liebhaber von Whisky und starken Zigaretten, der Sport haßte und dennoch neunzig Jahre alt wurde? (Natürlich müssen Sie verschweigen, daß das Schlitzohr häufige und ausführliche Spaziergänge liebte.)

Selbstverständlich werden Sie nicht leugnen, daß fünfundachtzigjährige Hobbyläufer Ihrem Sport Ihr hohes Alter verdanken. Oder daß der frühe Krebstod des Dramatikers Heiner Müller mit seinem exzessiven Zigarrenrauchen in Zusammenhang steht. Aber nun steht Einzelfall gegen Einzelfall. Und Sie können beruhigt sagen: Vielleicht schaden mir Zigaretten (Übergewicht, Alkohol, zu wenig Bewegung …). Vielleicht aber auch nicht.

5. Ich hab mein recht auf eigene Erfahrung!

Wo ist eigentlich der Beweis, daß ich für meine Sünden später einmal büßen muß? Schaut mich doch an! Braungebrannt, gesund und lebensfroh – könnt ihr euch wirklich vorstellen, das könnte eines Tages vorbei sein, bloß weil ich täglich mein Päckchen Zigaretten brauche? Hört mich mal durchatmen! Seht ihr, wie sich mein Brustkorb hebt und senkt? Die Treppen bis zu meinem fünften Stock nehme ich im Laufschritt! Glaubt ihr wirklich, das bißchen blauer Rauch könnte meinen kräftigen Lungen etwas anhaben? Ich habe Puste für zwanzig Treppen!

Andere mögen schlechte Erfahrungen gemacht haben. Ja, wenn ich Kettenraucher wäre, achtzig Zigaretten am Tag, ja dann … Ich mache meine eigene Erfahrung. Und die sagt mir, was mir Spaß macht, kann mir nicht schaden. Enthaltsamkeit ist spießig. Ich weiß doch, warum die andern nicht rauchen. Die haben Angst! Die trauen ihrem Organismus nicht über den Weg. Man muß in seinem Leben auch mal ein Risiko eingehen. Wie heißt es so schön: Ohne Risiko kein Erfolg. Und sollte es trotz allem schief gehen: Da ist ja immer noch die medizinische Wissenschaft. So ein Chirurg hat doch auch Sehnsucht nach Erfolg. Wie will er sich durch eine riskante Herzverpflanzung einen Namen machen, wenn sich niemand durch eine riskante Lebensweise das Herz so weit ruiniert, daß es ausgewechselt werden muß? Und wenn die Operation gelungen ist: Das gibt Schlagzeilen! Arzt und Patient werden berühmt, werden von Talkshow zu Talkshow weitergereicht und schreiben Bücher. Der Patient: „Das zweite Herz in meiner Brust“. Der Arzt: „Fremde Herzen in meiner Hand“.

Wenn sich dagegen fünftausend Leute das Rauchen abgewöhnen, macht das fünftausend Herzverpflanzungen überflüssig. Haben Sie je erlebt, daß eine solche Meldung irgendeiner Zeitung auch nur eine Schlagzeile wert war?

6. Volksweisheiten sind klüger als die medizinische Wissenschaft

Sprichwörter sind ein sprudelnder Quell gesammelter Menschheitserfahrung über Gesundheit und Krankheit. Eine Zeitlang haben uns Mediziner beweisen wollen, daß sie dank moderner Wissenschaft ad acta gelegt werden dürfen. Doch genauso wie kürzlich die Meteorologie die Bauernregeln neu für sich entdeckt hat, bestätigen immer mehr Ärzte, daß in den Volksweisheiten ein wahrer Kern steckt.

Ein paar Beispiele:

Alkohol tötet die Bazillen. Hieß es lange Zeit von seiten der Medizin, am gesündesten sei völlige Abstinenz, haben Untersuchungen der letzten Jahre ergeben, daß ein bis zwei Gläser Wein pro Tag das Immunsystem stärken. (Ein bis zwei Bier erfüllen den gleichen Zweck.) Die Wahrscheinlichkeit, sich eine Erkältung oder andere Infektionskrankheit einzufangen, ist bei denen, die täglich ein mäßiges Quantum Alkohol trinken, geringer als bei Abstinenzlern.

Sport ist Mord. Galt lange als Ausrede der Faulen. Inzwischen sind so viele Beispiele über Spätschäden bei Leistungssportlern bekannt, daß dieser Spruch mit mehr Respekt gewürdigt werden muß. Es sind dabei nicht nur die unmittelbaren Schäden infolge Überlastung ins Kalkül zu ziehen, sondern auch Begleit­erscheinungen exzessiven Trainings. So gibt es bereits einige hundert Opfer von Anabolika – das sind Präparate, die zum Zwecke des Aufbaus der Muskeln geschluckt werden. Sie belasten Kreislauf und Herz in lebensgefährlicher Weise.

Lachen ist die beste Medizin. Neue wissenschaftliche Untersuchungen aus den USA belegen eindeutig: Optimisten leben länger, gesünder und haben außerdem noch mehr Spaß. Nach den Ergebnisse von Christopher Peterson, Psychologe an der Universität von Michigan, erhoben in Langzeitbeobachtungen an 172 Studentinnen und Studenten, litten die Optimisten unter ihnen nur halb so oft an Erkältungen und Grippe wie die Pessimisten (und gingen auch nur halb so oft zum Arzt). Martin Seligman von der Universität of Pennsylvania konnte schon vor einigen Jahrzehnten zeigen, daß Optimisten länger ihre jugendliche Lebenskraft erhalten und wesentlich später als andere mit typischen Alterserscheinungen wie Bluthochdruck, Herz­erkrankungen oder Krebs zu kämpfen haben. Eine Studie an hundert Herzinfarktopfern in San Francisco ergab, daß Optimisten deutlich seltener einen zweiten Infarkt erlitten. Von den 16 sehr optimistischen Patienten lebten acht Jahre nach dem ersten Infarkt noch elf, von den 16 pessimistischsten Kandidaten nur noch einer.

Wer ein Leiden fürchtet, der leidet doppelt. Für die Tatsache, daß die Furcht vor der Krankheit krank macht, prägte Walter Kennedy 1961 den Begriff Nocebo – als Pendant zum Begriff Placebo für Scheinmedikamente. Wer sich fürchtet, dessen Selbstheilungskräfte sind blockiert. Nach Schätzungen ist diese Furcht für fünf Prozent der Infarkttode und schätzungsweise jede zehnte Grippeepidemie verantwortlich.

Das Mittel ist oft schlimmer als die Krankheit. Berichte über verheerende Nebenwirkungen von gut gemeinten Arzneien finden Sie fast jeden Tag in der Zeitung. Zu den schlimmeren Folgen gehört aber auch die sich epidemisch ausbreitenden Tablettensucht vieler Deutscher. Inzwischen dürfen annähernd zwei Millionen als medikamentenabhängig gelten. Allein 740 000 sind nach Angaben von Gerd Glaeske, Pharma-Spezialist der Barmer Ersatzkasse, nach Beruhigungsmitteln süchtig.

Allzuviel ist ungesund. Das gilt nicht nur für Sahnetorte, Schlaftabletten oder Sonnenlicht. Auch typische Gesundheits­stoffe, zum Beispiel Vitamine, können Vergiftungs­erscheinungen hervorrufen, wenn sie überreichlich eingenommen werden. So erzeugt der Überschuß von

Vitamin A

Vitamin B1
Vitamin B6
Vitamin C
Vitamin D
Müdigkeit, Übelkeit, trockene Haut, Haar­ausfall, Sehen von Doppelbildern
Überempfindlichkeit der Nerven
Das Gefühl von „Ameisenlaufen“ auf der Haut, Schmerzen in Armen und Beinen
Durchfall, Bildung von Nierensteinen
Starker Durst und häufiges Wasserlassen, Verdauungsstörungen, Nierensteine und Ablagerungen in den Blutgefäßen.
An einigen Mineralstoffe (Kalium, Kalzium, Phosphate, Fluoride, Eisen) kann ebenfalls nicht nur Mangel, sondern auch Überschuß herrschen. Gefährdet ist, wer die Versorgung über die natürliche Nahrungsaufnahme mit Vitamin- und Mineral­präparaten nachbessert – also laut Statistik jeder Dritte.
Fazit: Der Rückgriff auf Volksweisheiten beim Zusammen­basteln Ihrer persönlichen Gesundheits­maximen ist nicht zu verachten. In aller Regel werden Sie irgendwo einen wissenschaftlichen Nachweis finden, daß gerade an Ihrer persönlichen Weisheit etwas dran ist. Und wenn nicht – da die fünf von EGONet genannten Beispiele wissenschaftlich untermauert sind, kann es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch alle übrigen Sprichwörter durch medizinische Fakten belegt werden.
7. Ich bin das Opfer meiner Eltern
Haben Sie Probleme mit Ihrer Figur? Stichelt Ihr Ehepartner oder einer Ihrer Kollegen, Sie könnten mal wieder eine Diät vertragen? Kramen Sie einmal in Ihren alten Fotoalben! Gibt es da nicht irgendwo eine verblichene Schwarzweißfotografie, die Sie als rundlich-pausbäckiges Baby zeigt? Na bitte. Bei der nächsten Kritik an Ihrem Hüftspeck brauchen Sie nur noch seufzend zu nicken und zu entgegnen: „Weißt du, das ist Babyspeck. Schau dir dieses Foto an. In der Nachkriegszeit ging ein geflügeltes Wort um: gut genährtes Baby ist gesundes Baby. In unserer Familie hieß es, Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen. Und wehe, wenn ich mal nicht aufessen wollte! Als ich von zu Hause wegzog, war es schon passiert.“
Die Dünnen haben gut reden. Schlank bleiben, wenn man es schon ist, ist keine Kunst. Aber schlank werden … Schlagen Sie ein beliebiges Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie auf, und Sie werden erfahren, daß das Wesen Ihrer Individualität in frühester Kindheit ein für allemal festgelegt wurde. Die Vergangenheit könnte nicht einmal ein Gott wieder ungeschehen machen.
Sie sind nicht übergewichtig, aber Sie sind Raucher? Haben allerdings erst mit zwanzig damit angefangen? Kein Grund, Ihre Eltern aus ihrer Verantwortung zu entlassen! Raucht einer von den beiden? Dann haben Sie unbewußt sein Vorbild kopiert. Beides Nichtraucher? Ihr Zigarettenkonsum ist ein Akt der Abnabelung aus dem Elternhaus. Durch den Griff zur Zigarette befreiten Sie sich von dem elterlichen Vorbild und wurden eine eigenständige Persönlichkeit.
Was auch ihr Problem sein mag, Ihre Eltern sind bestimmt dafür verantwortlich. Schon aus logischen Gründen. Mutter und Vater sind nur Menschen und als solche fehlerhaft. Folglich müssen Sie auch irgendwelche Fehler in der Erziehung gemacht haben. Sollte Ihnen in der Rückschau keiner einfallen – es gehört zum Berufsbild professioneller Psychoanalytiker, das Versagen Ihrer Eltern in Ihren Erinnerungen aufzuspüren.
Ihre Eltern sind die besten Menschen von der Welt, und Ihre Jugend war rundherum glücklich? Vielleicht ist das gerade Ihr Problem. Zumindest ist es nicht normal. Wenn Sie eine so überaus glückliche Kindheit hatten, müssen Sie ja bei den Mängeln der heutigen Gesellschaft krank und unglücklich werden und sich nach der Kindheit wie nach einem verlorenen Paradies sehnen. Diesen Konflikt hätten Ihnen Ihre Eltern unbedingt ersparen müssen. Aber wenn Sie die beiden durchaus von aller Verantwortung freisprechen wollen – bitte sehr.
Es gibt noch andere Möglichkeiten, sich als Opfer der Vergangenheit zu sehen. Wie wäre es mit der Schule? Erinnern Sie Ihre Kniebeschwerden nicht an einen Sportlehrer, der verdächtig oft die Schüler zu Kniebeugen zwang? Wenn Ihnen der Rücken weh tut, fällt Ihnen da nicht eine Deutschlehrerin ein, die ständig rief: „Sitz gerade!“ ? Und könnten Ihre Schlafstörungen nicht in ursächlichem Zusammenhang mit der Angst vor Mathearbeiten stehen, die Sie einst bis in die Puppen büffeln ließen?
Auch da fällt Ihnen nichts ein? Das muß an Ihrem Gedächtnis liegen. Dafür könnten die Erbanlagen verantwortlich sein. Wenn Sie in Ihrer gesamten Biographie kein auslösendes Erlebnis für Ihre jetzigen Beschwerden finden, dürfte die Ursache vor Ihrer Geburt liegen. Gene, Hormone, Chromosomen – was uns die Natur nicht mitgegeben hat, fehlt heute, um unsere Probleme zu bewältigen. Sie würden gern wie Claudia Schiffer mehrere Millionen im Jahr verdienen – aber die Gene haben Ihnen leider nicht den passenden Körper beschert. Sie müssen Ihre Mutter pflegen, die an Altersdiabetes leidet, und Sie selbst sind auch gefährdet – die Mutter Ihrer Freundin Clara schaufelt dagegen ein Stück Torte nach dem anderen in sich hinein, und ihre Bauchspeicheldrüse feiert fröhlich mit. Dennoch klagt sie: „Ich kann einfach an keinem Kuchenbüfet vorbeigehen, ohne zuzulangen. Ihr wißt ja, wir haben alle ein Gen, daß uns Süßes vor jeder anderen Nahrung den Vorzug geben läßt. Weil Zucker als Energiespender für unsere Vorfahren überlebenswichtig war. In meiner Familie arbeitet dieses Gen besonders gut.“
Um sich rundherum als Opfer fühlen zu können, müssen Sie lediglich zwei Dinge beachten: Sie sollten stets betonen, daß Sie auf einer Reihe von Gebieten schlechtere Ausgangsbedingungen haben als andere. Das schließt Sie von einem unbeschwerten Leben aus. Und Sie dürfen nie – aber wirklich nie – erkennen, daß Sie auf allen übrigen Gebieten gleiche oder sogar bessere Startbedingungen haben als Ihre Mitmenschen. Denn das wäre der Anfang vom Ende Ihres Opferdaseins.
 
 
Gekürzter Auszug aus:
Frank Naumann: Mut zur Krankheit oder Die Lust am Unwohlsein. Die ultimative Verteidigungsschrift für Gesundheitsmuffel, Hobbypatienten und Berufshypochonder.
Verlag Gesundheit Berlin 1998, DM 19,90.
ISBN 3-333-01019-4

März 1999 © by www.berlinx.de

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