Print Friendly, PDF & Email

Wir sind eine reiche Gesellschaft, und dennoch ist dauerhaft schlechte Laune eine Volkskrankheit geworden. Häufig handelt es sich aber nicht nur um eine Unfähigkeit, das Gute im Leben nicht zu sehen, sondern um eine echte Krankheit, die fachkundiger Behandlung bedarf.

Jeder von uns kennt Stunden, in denen man sich bedrückt fühlt, Tage, an denen man sich selbst nicht so recht leiden mag. „Heute bin ich mit dem falschen Fuß aufgestanden“, sagen wir und deuten damit an, daß die depressive Stimmung morgen vorüber sein wird.
Bei etwa fünf Prozent der Menschen treffen wir jedoch auf dauernde Schwermut, verbunden mit einem Rückzug von fast allen Kontakten. Sie halten ihr Dasein für freud- und sinnlos, leiden unter Gefühlen der Leere, zweifeln an sich und quälen sich mit massiven Selbstanklagen. Sie fühlen sich minderwertig und überflüssig. Ein sehr großer Teil von denen, die Selbstmordversuche unternehmen, hat zuvor eine krankhafte Depression durchlaufen. Diese Gemütskrankheit bildet sich allmählich heraus.
Ein typisches Alarmzeichen sind Ein- und Durchschlafstörungen, die in Zusammenhang mit zunehmendem Pessimismus und wachsender Lustlosigkeit stehen. Das wichtigste Kennzeichen einer Depression ist die Unfähigkeit, Freude zu empfinden – vor allem dann, wenn die äußeren Ereignisse nicht schlimmer sind als bei anderen.
Eine Schlüsselrolle spielt der aktivierende Nervenbotenstoff Serotonin. Ein Mangel an dieser wichtigen Substanz im limbischen System macht depressiv. Je früher die Störung erkannt wird, desto größer sind die Heilungschancen. In vielen Fällen wird die Neigung zur Depression vererbt; die Fachleute sprechen dann von einer endogenen Depression. Sie kann auch im Zusammenhang mit einer organischen Krankheit entstehen, insbesondere wenn die Krankheit chronisch verläuft. Andere werden depressiv in Zusammenhang mit einem krisenhaften Lebensereignis; dann sprechen wir von einer reaktiven Depression. Nicht selten wirken beide Faktoren zusammen. Anzeichen, die auf eine dieser Formen hinweisen, sind:
endogene Depression: Unter den nächsten Verwandten, insbesondere unter den Eltern und Großeltern gab es ebenfalls depressive Personen. Die Depression unterliegt jahreszeitlichen Schwankungen; zu bestimmten, regelmäßig sich wiederholenden Zeiten hat der Betroffene ein Tief, danach geht es ihm zeitweise besser. Der Stimmungstiefpunkt im Tagesverlauf liegt am Morgen.
reaktive Depression: Es läßt sich ein konkretes, belastendes Ereignis feststellen, in dessen Folge der Betreffende allmählich depressiv wurde. Das können Trauerfälle, schwere Verluste und andere Krisen sein. Wenn diese Erlebnisse in eine kritische Entwicklungsphase – Pubertät, Schwangerschaft, Wechseljahre, Midlife-crisis, Beginn des Rentenalters – fallen, verliert der Betroffene die Lust am Leben und zieht sich allmählich von seinen früheren Bekannten zurück. Der Stimmungstiefpunkt liegt meist am Abend. Wird die Depression begünstigt durch negative Denk- und Gefühlsmuster, die in früher Kindheit erworben wurden, sprechen wir von einer depressiven Neurose (siehe voriger Abschnitt).
Depressive finden für ihre aggressiven Gefühle (Wut, Verzweiflung, Ärger) keinen Adressaten und richten sie folglich gegen sich selbst. Sie haben verlernt, sie auszuleben. Frauen sind zwei- bis dreimal häufiger anfällig als Männer, vor allem weil Männer eher die Chance haben, ihre Konflikte im Beruf, im Sport oder in Freizeitvereinen auszutragen. Einsamkeit, Armut und lieblose Beziehungen sowie fehlende berufliche und soziale Perspektiven erhöhen das Erkrankungsrisiko. Alleinerziehende Mütter sind daher in überdurch­schnittlichem Maße gefährdet.
Eine schnelle, unproblematische Hilfe ist möglich, solange der Kranke sich noch nicht völlig von allen äußeren Kontakten zurückgezogen hat. Insbesondere endogen Depressive brechen irgendwann alle Beziehungen ab, kapseln sich völlig ein und verwahrlosen.
Wenn Sie also ausgesprochen häufig unter Schwermut und Niedergeschlagenheit leiden: Suchen Sie das Gespräch und halten sie die Kommunikation aufrecht. Pflegen Sie Kontakte zu Menschen, die Interesse an Ihnen zeigen, auch wenn es nur Ihre Kenntnisse in der Blumenpflege oder Ihre Kochkünste betrifft. Jeder, der bereit ist, Ihnen zuzuhören, hilft Ihnen. Sprechen Sie über Ihre negativen Gefühle, das allein erleichtert ungemein. Seien Sie nicht ärgerlich, wenn Ihr Zuhörer Ihnen sagt, Sie sollten nicht so schwarz sehen. Versuchen Sie lieber zu erklären, was die Auslöser Ihrer schlechten Stimmung sind.
Haben Sie eine(n) Depressive(n) In Ihrer Bekanntschafft, können Sie umgekehrt als Zuhörer(in) helfen. Bagatellisieen sie die Schwarzseherei nicht. Erzählen Sie ihm also nicht – was naheliegt – daß das alles nicht so schlimm sei und sich bald wieder gibt. Kein Trösten und kein Verharmlosen! Versuchen Sie zu erfahren, welche realen Situationen seine Selbstanklagen ausgelöst haben. Depressive gestehen sich oft nicht ein, daß sie auf bestimmte Personen wütend, ärgerlich oder von ihnen enttäuscht sind. Sie suchen alle Schuld bei sich selbst. Dann können Sie zum Beispiel antworten: „Bist du auf den nicht wütend? Also, wenn das mit mir einer machen würde, stinksauer wäre ich! Übrigens finde ich, du hast dich in der Situation ganz richtig verhalten.“
Ist die Tendenz zum Rückzug und zur Abkapselung nicht mehr umzukehren, muß ein Fachmann hinzugezogen werden. Das trifft auch zu, wenn konkrete Selbstmordphantasien geäußert werden, also nicht nur die allgemeine Absicht „Am liebsten würde ich mich umbringen“, sondern genaue Vorstellungen, wie dieses Aus-dem-Leben-scheiden vor sich gehen soll.
Medikamente sind nur bei schweren Depressionen nötig. Antidepressiva mindern zwar die Niedergeschlagenheit, lindern die Krankheit selbst aber erst nach zwei bis drei Wochen. Bis dahin steigt das Selbstmord­risiko noch an, weil die Betroffenen unter der Wirkung des Medikaments aktiver werden.
Depressive benötigen in erster Linie eine intensive psychotherapeutische Betreuung. Je nach Art und Schwere der Erkrankung wird der Therapeut den Patienten von seinen negativen Gefühlen entlasten und mit ihm Verhaltensweisen trainieren, die ihm Erfolgserlebnisse vermitteln. Kein Arzt darf Antidepressiva verschreiben, ohne zugleich seinen Patienten psychotherapeutisch zu betreuen!
Besonders erfolgreich sind die Depressionstherapie von Lewinsohn und die kognitive Therapie von Beck.
Kognitive Therapie von Beck : Nach seinem Begründer benanntes Verfahren, 1979 entwickelt, das durch Übungen und Analysen verzerrte Denkmuster und Wirklichkeitswahrnehmungen bewußt macht. Für die Behandlung von Depressionen wurde eine außerordentlich hohe Wirksamkeit festgestellt.
Depressionstherapie von Lewinsohn : 1974 entwickeltes Verfahren, das auf der Annahme beruht, daß Depressionen entstehen, weil dem Patienten positive Rückmeldungen aus seiner Umwelt fehlen. Der Therapeut entwickelt für ihn einen Plan von Aktivitäten, durch die er unweigerlich solche Rückmeldungen aus seiner Umgebung erhalten wird. Der Therapeut übernimmt die Initiative und lenkt den Patienten, bis er wieder von sich aus Lust am Leben verspürt. Diese Verfahren bietet vor allem solchen Depressiven eine optimale Therapie, die sich schon soweit in sich selbst zurückgezogen haben, daß sie auf behutsame Gesprächsführung nicht mehr reagieren.
Es hat sich in einer neueren Studie der Freien Universität Berlin gezeigt, daß auch Dauerlauf hilfreich ist, selbst bei schweren Depressionen. Regelmäßiges Joggen eignet sich hervorragend zur Selbsthilfe. Der Grund: Beim Dauerlauf werden Endorphine, körpereigene Glückshormone freigesetzt, die die Stimmung nachhaltig aufhellen.
Es gibt einige Formen der Depression, die im äußeren Erscheinungsbild von der üblichen Passivität und Niedergeschlagenheit abweichen und deshalb oft nicht erkannt werden.
Sisi-Syndrom : Neueste Untersuchungen ergaben, daß etwa 20 Prozent der Patienten quirlige, scheinbar lebensbejahende Menschen sind. Im Innern leiden Sie an einer schweren Verstimmung, versuchen ihr jedoch durch quirlige Hyperaktivität zu entfliehen. Durch dauerndes Machen und Tun gehen Sie nicht nur andern permanent auf den Wecker, sondern gestehen sich selbst ihr seelisches Leiden nicht ein. Nach der berühmten österreichischen Kaiserin haben Fachleute diese Form der Depression „Sisi-Syndrom“ getauft. Sie ist mit modernen Medikamenten gut heilbar.
Die depressive Neurose ist eine Form der reaktiven Depression. Eine Niedergeschlagenheit ist hier gekoppelt mit zwanghaftem Verhalten. Symptome sind Antriebslosigkeit, fehlende Lebensziele, unangemessene Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, zwanghaft rigides Gewissen, starkes Bedürfnis nach Selbstbestrafung, bis zu Selbstmord­tendenzen. Depressive Neurotiker fordern von ihren Mitmenschen ständig Beweise der Zuneigung, andererseits überhäufen sie sie mit Forderungen – beides Ausdruck einer geringen Frustra­tionstoleranz. Ausgangspunkt ist meist ein konkretes trauriges Ereignis. Die Trauerarbeit (Siehe Kapitel „Extreme Lebenseinschnitte“) mißlingt. Die Symptome bilden sich allmählich heraus. Der Betroffene behauptet: „Ich bin ein Versager“ oder „Ich bin der geborene Pechvogel“. Die Wut über Mißerfolge richtet er gegen sich selbst. Eine depressive Neurose läßt sich gut mit psychotherapeutischen Methoden behandeln.
Eine echte Krankheit ist die manisch-depressive Psychose. Eine Manie ist das Spiegelbild der Depression. Manische Menschen sind grundlos heiter, die Stimmung ist blendend. Sie kennen keine Hemmungen. Daß daran etwas Krankhaftes sein könnte, begreifen sie nicht, auch wenn sie mit schamlosen Verhaltensweisen alle Welt vor den Kopf stoßen. In der Fachwelt ist umstritten, ob es reine Manien gibt ohne depressive Phasen. Im Normalfall schwanken die Kranken zwischen Himmelhoch jauchzend und Zu Tode betrübt. Nach einer manischen Phase tritt eine tiefe Depression ein, die von einer neuen Periode exaltierter Hemmungslosigkeit abgelöst wird.
Stimmungsschwankungen kennt jeder. Die Kranken unterscheiden sich von uns darin, daß ihre Empfindungen sehr extrem sind und alle inneren Kontrollmechanismen versagen. Vor allem aber ist die jeweilige Stimmung völlig unabhängig von äußeren Ereignissen. Manisch-Depressive können in Heiterkeit und gute Laune ausbrechen, wenn gerade die Lieblingskatze gestorben ist, und in Schwermut und Selbstvorwürfen versinken, wenn sie ein wichtiges Examen bestanden haben. Sie haben kein Empfinden für die Unangepaßtheit ihrer Stimmungen. Ihr Verhalten erscheint ihnen normal.
Das Auffällige an einer Manie ist nicht so sehr das bizarre Verhalten, sondern daß es völlig unabhängig von den üblichen Umgangsregeln und kulturellen Standards ist. „Gesunde“ Exzentriker brechen die Regeln ihrer Umgebung bewußt. Wer beispielsweise feste Wohnung und Partnerschaft für spießig hält, wählt eine unstete Lebensweise, um anderen und sich selbst seine Unabhängigkeit zu demonstrieren. Leidet er zugleich unter seiner Bindungslosigkeit, haben wir es mit einer neurotischen Störung zu tun.
Manische Menschen entscheiden sich dagegen nicht bewußt für Normverstöße, sondern geben einfach ihrer exaltierten Stimmung nach. Sie zeigen sich ausgelassen, fröhlich, ja sogar witzig und sprühend vor Einfällen. Mit atemberaubender Geschwindigkeit werden unterschiedlichste Aktivitäten in Angriff genommen und genauso schnell wieder aufgegeben. Jede Kleinigkeit kann sie ablenken und völlig andersartige Handlungen auslösen. Sie können sich keinen Moment bremsen, um über ihre Ziele oder die Konsequenzen ihres Tuns nachzudenken. Alles erscheint ihnen möglich, nicht die geringsten Selbstzweifel kommen auf. Sie stürzen sich in Schulden, schwindeln, spekulieren, breiten von jedermann ihren grundlosen Optimismus und ihre großartigen Projekte aus, die sie im nächsten Moment schon zugunsten eines noch größenwahnsinnigeren beiseite schieben. Hauptsache Bewegung, Hauptsache Aktivität. In dieser Zeit sind sie zu erstaunlichen körperlichen Leistungen fähig. Sie jagen vierundzwanzig Stunden am Tag durch das Leben, schlafen nicht, essen mit unvorstellbarem Appetit ohne zuzunehmen, spüren keine Erschöpfung und keinen Schmerz. Durch ihre maßlose Selbstüberschätzung sprengen sie taktlos alle Konventionen. Sie opfern einer flüchtigen Idee langandauernde Beziehungen, verlassen ihre Kinder, reichen Scheidungen ein und nehmen sie im nächsten Moment wieder zurück. Am Ende steht häufig ein Trümmerhaufen aus Schulden und zerstörten Beziehungen.
Sobald die körperlichen und seelischen Reserven erschöpft sind, setzt eine depressive Phase ein (Merkmale siehe voriger Abschnitt). Die Kranken überhäufen sich mit Selbstvorwürfen. In dieser Periode ist das Selbstmordrisiko außerordentlich hoch.
Entgegen allem äußeren Anschein handelt es sich um eine innere, biologisch verursachte Krankheit. Die biochemischen Vorgänge im Gehirn sind gestört infolge von Lithiummangel. Es verspricht daher wenig Erfolg, begütigend und mit Vernunftgründen auf die Manisch-Depressive einzureden. Wirksame Hilfe kann nur ein Arzt leisten, der Lithiumpräparate (Mikroplex, Hypnorex, Quilonum u.a.) verschreibt und regelmäßig den Blutspiegel kontrolliert. Die Medikamente stabilisieren die Stimmungen. Allerdings fällt es den Kranken schwer, sich mit dem Verlust der Zeiten überschäumender Laune und euphorischer Höhenflüge abzufinden. Ähnlich wie bei dem Entzug eines psychisch anregenden Rauschgiftes unterliegen sie dauernd der Versuchung, die Einnahme der Medikamente wieder abzubrechen. Da manche das Lithium lebenslang einnehmen müssen, ist es wichtig, daß Freunde und Partner das Gelingen der Therapie ständig überwachen und den Patienten ermuntern, Anregungen im Alltag statt in der veränderten Chemie seines Gehirns zu suchen.
Leseempfehlungen:
René Diekstra: Pflaster für die Seele. Wie man mit Alltagsdepressionen fertig wird. Ernst Kabel Verlag Hamburg 1991.
Frank Naumann: Erste Hilfe für die Seele. Verlag Gesundheit Berlin 1996.
Paul G. Quinnett: Warum mit dem Leben Schluß machen? Ein Ratgeber für Gefährdete und für die, die sie verstehen und lieben. Verlag Herder, Freiburg, Basel, Wien 1990.

März 1999 © by www.berlinx.de

No votes yet.
Please wait...