Vorläufigkeit als neuer Lebensstil
Ob in der Liebe oder im Job – wer sehnt sich nicht nach Stabilität und Beständigkeit? Doch die Hoffnung erfüllt sich nur selten. Beziehungen scheitern, Firmen entlassen Leute. Kein Grund für Selbstvorwürfe und Grübeleien über das Wenn und Aber.
Zu Großmutters Zeiten lernte man einen Beruf und blieb in der Firma bis zur Rente. Mit 20 wurde geheiratet, es kamen die Kinder, dann die Enkel … Zugegeben, das ist ein Klischee. Auch früher wirbelten unverhoffte Ereignisse (Krieg, Unfälle, politische Veränderungen) die Lebensläufe durcheinander. Dennoch: Nie gab es so viele Scheidungen wie heute, meist schon nach weniger als vier Ehejahren. Nie zuvor hat das Berufsleben soviel Flexibilität und Mobilität verlangt. Aber wenn wir ehrlich sind: Kaum jemand hat die Botschaft innerlich akzeptiert. Heimlich sehnen wir uns weiter nach Stabilität. Nach der großen, lebenslangen Liebe und nach einer geradlinigen Karriere.
Da sich diese Träume immer seltener erfüllen, fühlen sich Jahr für Jahr mehr Menschen als Versager. Ich kann mir noch so oft sagen, dass ich nicht für den Mangel an Arbeitsplätzen verantwortlich bin – dennoch schaue ich als frisch Gekündigter mit leisem Neid auf die Kollegen, die in der Firma bleiben. Da habe ich alle Energie in diesen einen Job investiert, und nun stehe ich vor dem Nichts. Ähnlich verhält es sich mit der Liebe. Monatelang hatte ich nur Augen für diesen einen Menschen – und plötzlich zeigt er mir die kalte Schulter.
Theoretisch wissen wir alle, dass die Zeit der vorgezeichneten Lebensläufe vorbei ist. Wir geben uns spontan und offen für alles Neue. Doch wenn dieses Lippenbekenntnis einmal auf die praktische Probe gestellt wird, ist das Entsetzen groß. Lieber die vertraute, mittelmäßige Gegenwart als eine unbekannte Zukunft! Falls Sie schon einmal in dieser Lage waren, fragen Sie sich:
- Habe ich mich in meinem tiefsten Innern auf Veränderung als Lebensform eingestellt?
- Habe ich vielleicht mein Leben schon bis zur Rente durchgeplant?
- Wäre ich bereit, alles hinter mir zu lassen und woanders noch einmal neu anzufangen?
Die Statistiken verraten uns: Die meisten Lebenspartner sind nur Lebensabschnittspartner. Kurzzeitjobs nehmen zu – immer mehr Karrieren ähneln einer Aneinanderreihung von Praktika. Mobilität ist der Regelfall: Nur wenige verbringen noch ihr ganzes Leben dort, wo sie geboren wurden. Die Zahl der Firmenpleiten wächst – aber auch die Zahl der Firmenneugründungen. Anders ausgedrückt: Viele Unternehmerkarrieren sind eine Abfolge von Firmengründungsversuchen.
Wenn Sie bisher nach Stabilität strebten, ist die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns groß. Sie können dieses Risiko in eine Chance verwandeln, wenn Sie sich willentlich auf ein Leben im Vorläufigen einrichten. Die Franzosen haben ein Sprichwort: Rien dure que le provisoire. Zu Deutsch: Nichts ist so dauerhaft wie das Vorläufige. Veränderung ist das einzig sichere Stabile in unserem Leben.
Auch der provisorische Lebensstil folgt festen Regeln:
- Genießen Sie den gegenwärtigen Moment, statt zu versuchen, eine ungewisse Zukunft abzusichern.
- Halten Sie immer Alternativen parat: Verlieben Sie sich, aber bauen Sie zugleich einen großen Freundeskreis auf. Engagieren Sie sich im Beruf, aber pflegen Sie Kontakte zu andern Firmen und Kunden. Bilden Sie sich weiter.
- Warten Sie nicht ab, bis man Sie zur Veränderung zwingt. Suchen Sie vielmehr rechtzeitig und aktiv nach neuen Chancen.
- Verinnerlichen Sie das Motto: Nur wenn mein Leben noch Überraschungen und Umbrüche bietet, werde auch ich persönlich mich weiter entwickeln.
Optimal ist eine Balance von Provisorium und Stabilität. Mehrere große Veränderungen zur gleichen Zeit könnten ihre seelische Anpassung überfordern. Sorgen Sie dann für Inseln der Stabilität. Das könnte die Unterstüzung alter Freunde sein, ein spannendes Hobby, aber auch eine sorgfältige Planung der nächsten Schritte, damit Sie die Übersicht behalten. Wenn sich umgekehrt seit Jahren bei Ihnen gar nichts mehr verändert hat – überlegen Sie, wie Sie wieder Bewegung in Ihr Dasein bringen können. Bevor Langeweile Sie plagt oder eine Art Midlife Crisis Sie verleitet, wertvolle Beziehungen aufs Spiel zu setzen, weil Sie sich auf einmal die Fragen stellen: „Soll das alles gewesen sein?“
Veröffentlicht im November 2005 © by www.berlinx.de
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