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Die Kunst über den eigenen Schatten zu springen

Risikobereitschaft gilt als eine Schlüsselqualifikation, nicht nur für Unternehmer und Führungskräfte. Auch im übrigen Leben eröffnet die Bereitschaft, Schwellen zu überschreiten, neue Chancen – und man fühlt sich freier und zufriedener mit sich selbst. Egonet fordert: Mehr Courage für alle!

Das Leben ist sicherer, aber auch langweiliger geworden. Todesmutige Kämpfe finden nur noch am Computer statt. Wer im Berufsleben scheitert, muss nicht hungern, sondern erhält eine Grundsicherung. Als Gegengewicht bildete sich eine Risiko-Freizeitkultur. Für Kinder ist es der Sprung vom Zehn-Meter-Brett, für Teenys und Erwachsene Bungee-Jumping und Free Climbing. Ist das Mut?

Eindeutig nein. Noch immer gilt die Definition von Platon, der schon im antiken Griechenland das Wesentliche erkannte: Mut ist stets durchdacht. Der Mutige ist sich der Gefahren bewusst. Er kennt die Risiken und weiß, warum er sie eingeht. Und Aristoteles fügte hinzu: Mut ist die Mitte zwischen zwei Extremem – Feigheit und Leichtsinn. Nur der Mutige testet seine Grenzen aus. Nur er erfährt, wozu er imstande sein kann.

Wer Risiken scheut, bleibt unter seinen Möglichkeiten. Unzufriedenheit über verpasste Chancen ist das Resultat. Wer umgekehrt ohne Training zu einer gefährlichen Bergtour aufbricht oder unter Alkohol ein Wettrasen auf der Autobahn riskiert, ignoriert die Gefahren. Entweder weil er sie nicht kennt oder sie nicht kennen will. Leichtsinn ist dumm. Denn dabei kann man ein oder zwei Mal mit Glück seinen Hals retten, aber dann schlägt das herausgeforderte Schicksal zu. Aber nicht nur körperlich riskante Aktionen zeugen von Leichtsinn.

Auch wer seinen Besitz für einen Mega-Kredit verpfändet, um damit an der Börse zu spekulieren oder ungeschützten Sex in einem Hochrisikoland praktiziert, handelt leichtsinnig. Sogar wenn das eine Methode sein soll, auf originelle Weise Selbstmord zu begehen, bleibt sie dumm. Größer als die Erfolgschance ist nämlich die Gefahr, dass man andere mit in den Tod reißt, selbst aber schwer lädiert davon kommt. Dann kann man jahrzehntelang als Invalide mit Dauerschmerzen die Überlegungen nachholen, die man vorher hätte anstellen sollen.

Mut dagegen ist klug. Der Mutige geht kalkulierte Risiken ein. Er informiert sich genau, was schlimmstenfalls passieren kann. Ist die zu erwartende Belohnung die Folgen eines möglichen Scheiterns wert? Nur wenn die Antwort „ja“ lautet, schreitet er zur Tat. Mutige Taten sind zum Beispiel:

  • Lampenfieber und Schüchternheit überwinden, indem man wagt, vor Publikum zu treten oder Unbekannte anzusprechen
  • Einer Sucht von heute auf morgen zu entsagen und alle Entzugserscheinungen auszuhalten
  • Aus der Arbeitslosigkeit den Sprung in die Ungewissheit der Selbständigkeit zu riskieren
  • Aus einer Routinebeziehung auszubrechen und woanders einen Neuanfang zu wagen, auch mit dem Risiko, allein zu bleiben.

Vielleicht sagen Sie jetzt: „Das soll Mut sein? Unter Mut stelle ich mir etwas Heroischeres vor!“ Der Einwand ist berechtigt und zeigt eine weitere Schwierigkeit. Mut ist etwas Persönliches. Was für den einen eine kaum überschreitbare Hürde darstellt, bewältigt der andere mit links. Das ist – mit Einstein gesprochen – die Relativitätstheorie des Mutes. Mut bemisst sich an der Angst, die der Mutige zu überwinden hat. Und was Angst auslöst, ist für jeden Menschen verschieden. Ist eine Tat objektiv gefährlich, aber der Handelnde spürt keine Angst, handelt er nur leichtsinnig. Hat der Handelnde jedoch die nötige Kompetenz –zum Beispiel, weil er als Fernsehjournalist tagtäglich Fremde anspricht – ist für ihn Routine, was für einen Schüchternen einen Heldentat darstellt. Ebenso braucht ein erfahrener Taucher weniger Mut als ein Amateur, um fremde Tiefen zu erkunden.

Seinen Mut zu trainieren, lohnt sich. Denn wer Courage gewinnt, befreit sich von Ängsten – eine wichtige Voraussetzung für mehr Zufriedenheit mit sich und seinem Leben. Die Schriftstellerin Anais Nin sagte: „Je nachdem, wie mutig ein Mensch ist, expandiert oder schrumpft sein Leben.“ Dafür genügt es jedoch nicht, irgend etwas zu tun, was allgemein als mutig gilt. Überlegen Sie, wovor Sie am meisten Angst haben – und tun Sie genau das. Immer wieder. Wenn Sie zum Beispiel furcht vor Spinnen und öffentlichen Auftritten haben sollten, hat es wenig Sinn, gefährliche Überholmanöver auf der Autobahn zu üben. Halten Sie es aus, Spinnen und Publikum zu begegnen. Angst schwindet durch Gewohnheit. Ausweichen dagegen steigert sie.

Es gibt verschiedene Tricks, sich dem Objekt der Angst schrittweise zu nähern:

  • Betrachten Sie zunächst Bilder oder malen Sie sich die gefährliche Situation in Ihrer Phantasie aus, mit allen unangenehmen Details.
  • Malen Sie sich aus, was Sie alles erreichen werden, wenn Sie den nötigen Mut gewonnen haben werden.
  • Überlegen Sie im Voraus: Was kann schlimmstenfalls passieren? Bereiten Sie eine Notvariante für diesen Fall vor. Wie werden Sie sich dann aus der Bredouille ziehen? Für einige Situationen finden Sie Tipps in anderen Egonetartikeln.
  • Beginnen Sie mit kleinen Mutproben und steigern Sie allmählich den Schwierigkeitsgrad.

Der Schauspieler Bill Cosby sagte einmal: „Der Schlüssel zum Scheitern ist der Versuch, es allen recht zu machen.“ Und der Philosoph Ludwig Marcuse meinte: „Wie mutig man ist, weiß man immer erst hinterher.“

Veröffentlicht im April 2006 © by www.berlinx.de

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