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Das Ohr als Medium menschlicher Kommunikation

Weniger als zwanzig Prozent unserer Sinnesdaten empfangen wir über das Ohr. Das Auge ist die Nummer Eins bei der Orientierung in der Umwelt. Doch wenn es um Gefühle und zwischenmenschliche Verständigung geht, verlassen wir uns lieber auf unser Gehör. Egonet berichtet über Schall, Sprache und Musik.

Bei den Affen dominiert das Auge in jeder Hinsicht. Selbst bei der Kommunikation dominiert die sichtbare Körpersprache. Das Gehör dient lediglich als Gefahrensignal. Im tropischen Regenwald herrscht normalerweise ein Lärm wie auf einer belebten Citykreuzung. Plötzliche Stille oder veränderte Laute verrieten ungewöhnliche Ereignisse wie das Nahen eines Raubfeindes. Auch untereinander warnen Vögel und Säugetiere einander auf akustischem Wege, mit Alarmschreien. Aus diesem Grunde hat die natürliche Selektion nur solche Tiere (und Menschen) überleben lassen, die ihr Gehör nicht willkürlich abschalten können. Wir können zwar die Augen schließen, nicht aber die Ohren. Sie sind immer auf Rundum-Empfang eingestellt. Sogar im Schlaf. Eine Mutter schreckt hoch, wenn sich der Atem ihres Babys verändert, schläft aber weiter, wenn draußen ein Gewitter tobt.

Das Ohr ist ein raffiniert gebauter Verstärker. Ohrmuschel und äußerer Gehörgang bündeln die eintreffenden Schallwellen. Dann treffen sie auf das Trommelfell und versetzen es in Vibrationen. Die Schwingungen aktivieren die kleinsten Knochen, über die wir verfügen: Amboss, Hammer und Steigbügel. Ihre Hebelwirkung verstärkt den Schall auf das Zwanzigfache. Die so verstärkten Schwingungen bewegen in der dahinter liegenden Gehörschnecke die rund 15 000 Haarzellen. Sie leiten das Signal direkt zum Gehörnerv weiter. Der schickt sie zum Gehirn, das sie in sinnvolle Bedeutungseinheiten übersetzt. Diese Dekodierung umfasst zwei Ebenen:

  • Lautstärke, Tonhöhe, Intervalle und ähnliches übersetzt es in Gefühlszustände.
  • Feinmodulationen (von Zunge und Lippe des Sprechers) übersetzt es in Sprachinhalte.

Über die zweite Ebene verfügen nur wir Menschen. Noch immer streiten sich die Forscher, wo die Sprachfähigkeit herkommt. Sicher ist, sie ist angeboren. Zieht man ein Menschenkind und ein Schimpansenjunges wie Geschwister in einer Familie auf, lernt nur das Menschenkind sprechen. Die Forscher streiten, ob nur die allgemeine Fähigkeit, sprechen zu lernen, in den Genen liegt, oder auch die Sprachstruktur. Ein Kind ist vor der Pubertät in der Lage, akzentfrei und ohne grammatische Fehler jede beliebige Sprache – ja sogar zwei oder drei – ohne systematischen Unterricht zu erlernen. Sogar dann, wenn es sich in jeder anderen Hinsicht als wenig intelligent erweist. Und das alles, ohne je erfahren zu haben, was eine Grammatik überhaupt ist.

Daraus haben amerikanische Forscher wie Noam Chomsky und Steven Pinker gefolgert, dass wir über einen „Sprachinstinkt“ verfügen. Er beinhaltet eine angeborene Erwartung des Kindes, in der Umgebung, in die es hineingeboren wird, auf Laute zu treffen, hinter der sich Worte und eine Grammatik verbergen. Das Brabbeln der Babys – das haben Forscher in jüngster Zeit gezeigt – ist kein sinnloses Lallen, sondern strukturiert. Nach und nach lassen die Babys alle Laute weg, die in ihrer Umgebung nicht vorkommen. Bis die „Muttersprache“ übrig bleibt.

Die erste Ebene – Lautstärke, Tonhöhe, Intervalle – haben wir mit den Tieren gemeinsam. Aber wir Menschen haben sie im Vergleich zu den Affen um ein Vielfaches verfeinert, parallel zur Entwicklung von Kehlkopf und Zungenbewegungen. Wir können 7000 Tonhöhen auseinander halten. Außerdem haben wir ein ausgezeichnetes Gedächtnis für diese feinen Unterschiede. Sie bilden die Basis der Musik. Noch nach Jahrzehnten können wir uns an Melodien erinnern – mit allen Emotionen und Erinnerungen, die an ihnen hängen.

Unsere Ohren sind spezialisiert. Schon bei Neugeborenen reagiert das rechte Ohr eher auf Sprache, das linke Ohr auf Töne und Musik. Noch als Erwachsene besitzen wir diese Arbeitsteilung. Wir verarbeiten Sprache mit der linken Hirnhälfte, die mit dem rechten Ohr vernetzt ist – Musik jedoch mit der rechten Hirnhälfte. Diese Aufteilung hat praktische Konsequenzen. Kinder, die einen Hörfehler im rechten Ohr besitzen, haben in der Schule größere Schwierigkeiten, als solche mit Hörproblemen im linken Ohr.

Einige Menschen verfügen sogar über ein absolutes Gehör. Sie merken sich nicht nur das Verhältnis zweier Töne zueinander, sondern erkennen die genaue Frequenz eines einzelnen, isolierten Tones. Ein Anschlag einer Klaviertaste genügt, und sie hören, um welchen Ton es sich handelt – ja sogar, ob das Klavier richtig gestimmt ist. Die amerikanische Psychologin Jenny Saffran entdeckte, dass Kleinkinder generell über diese Fähigkeit verfügen. Warum geht sie später verloren? Ein heranwachsendes Kind, das auf absolute Tonunterscheidung eingestellt ist, besitzt ein zu fein eingestelltes Gehör. Es hat Schwierigkeiten zu erkennen, dass „Alle meine Entchen“ – von Papa und Mama in verschiedener Weise gesungen – das gleiche Lied ist. Auch beim Sprechen muss das Kind begreifen, dass die Wörter von der Tonhöhe, mit der sie ausgesprochen werden, nicht verändert werden. Deswegen „lernt“ es, die genaue Tonhöhe zu ignorieren.

Oktober 2004 © by www.berlinx.de

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