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Wie unsere Augen unser Erleben bestimmen

Wir sind Gefangene unserer Sinne. Sie lassen nur ein Bruchteil der Außenwelt in unser Inneres und verwandeln physikalische Gegebenheiten in subjektive Empfindungen wie Farbe, Töne und Gerüche. In einer lockeren Folge von Beiträgen stellt Ihnen Egonet die unablässige Hintergrundarbeit unserer Sinne vor. Wir starten heute mit den Augen.

Verbinden Sie sich die Augen und tasten Sie sich so durch einen Wald. Versuchen Sie Ihren Weg allein mit Ohren, Nase, Füßen und Händen zu finden. Was sich für Sie zu einem wagemutigen Abenteuer eines sensorisch Behinderten gestalten dürfte, war für unsere entferntesten Vorfahren normaler Alltag. Die ersten Säugetiere, die sich nach dem Untergang der Dinosaurier daran machten, den Planeten zu erobern, lebten als fast Blinde im Dunkeln. Ihre Augen waren nur ein Notbehelf und der unwichtigste ihrer Sinne.

Heute empfangen wir achtzig Prozent aller Umweltinformationen über die Augen. Wir verdanken diesen Wandel den Affen. Ihr Lebensraum in den Wipfeln tropischer Bäume erforderte scharfes, dreidimensionales Sehen. Wer nur flache Bilder wahrnahm, langte beim Griff nach dem nächsten Ast daneben, stürzte hinunter und gehörte deshalb nicht zu unseren Vorfahren. Es überlebten jene, deren Augen von der Kopfseite zur Mitte wanderten. Damit lieferten beide Augen ein ähnliches, nur um wenige Zentimeter versetztes Bild. Das Gehirn lernte, die kleinen Unterschiede beider Augenbilder zu Entfernungsangaben zu verrechnen. Je weiter ein Ast im Bild des linken Auges im Vergleich zu dem Bild des rechten Auges nach links versetzt war, desto näher musste er sich befinden.

Was am meisten zum Siegeszug des Auges beitrug, war das Farbensehen. Die meisten Tiere –zum Beispiel unsere Haushunde – nehmen nur Helligkeitsunterschiede war. Doch dort, wo reflektierendes Licht verrät, ob eine Frucht süß oder noch unreif-bitter schmecken wird, bedeutete die Fähigkeit, Wellenlängen zu unterscheiden, einen Überlebensvorteil. Wellenlängen zwischen 380 (rot) und 760 (violett) Nanometer reizen die Zapfen in unserer Netzhaut. Das Gehirn übersetzt die Daten in Farben. In diesem Wellenbereich kann ein Computer rein rechnerisch 16,7 Millionen Farbnuancen aufschlüsseln. Real kann der Mensch rund 150 Farbabstufungen unterscheiden. Selbst das ist eine beachtliche Zahl – Sie merken es, wenn Sie mal versuchen, all diese Farben zu benennen. Eine andere Tiergruppe, die mit gänzlich anders gebauten Augen eine ähnliche Fähigkeit entwickelt hat, sind die Insekten. Ihr Farbspektrum ist leicht nach oben verschoben. Bienen können kein Rot erkennen, sehen aber dafür das für uns unsichtbare ultraviolette Licht. Ihr Zielobjekt sind Blüten, deren Farbe ihnen die besten Nahrungsquellen verrät.

Unsere Augen verfügen über zwei Arten von Lichtrezeptoren – Stäbchen und Zapfen.

  • Die Stäbchen sorgen für die Unterscheidung von hell und dunkel. Sie sind so empfindlich, dass sie auf ein einzelnes Photon reagieren können. Deswegen können wir auch in der Dämmerung noch gut sehen, wenn auch nicht mehr so perfekt wie nachtaktive Tiere (z.B. Katzen). Immerhin steigt die Fähigkeit, auch bei wenig Licht noch zu sehen, erheblich, wenn das Auge bis zu 40 Minuten Zeit hat, sich anzupassen., An völlige Dunkelheit gewöhnt, benötigen Menschenaugen 30 000 mal weniger Tageslicht, um noch etwas zu erkennen, im Vergleich zu normalem Tageslicht.
  • Die Zapfen nehmen Farben und Formen wahr. Dass sie eine neuere Errungenschaft der Evolution sind, beweist die Tatsache, dass nur ein Zapfen auf knapp 18 Stäbchen kommt – sieben Millionen Zapfen auf 125 Millionen Stäbchen.

Diese Zapfen haben unsere „Sicht“ der Welt auf typisch menschliche Weise „gefärbt“. Ohne sie gäbe es keine Colorfilme, kein Make-up, keine Ampeln, aber auch keinen Rassenhass. Aber mehr noch – Farben beeinflussen Stimmungen. Rot regt an, Grün beruhigt, Gelb stimmt fröhlich und Blau weckt Sehnsüchte nach Himmel und Meer. Autos in Silber sind beliebt, in rosa sind sie quasi unverkäuflich. Kosmetik und Mode könnten ohne Farben einpacken. Und dennoch: fünf Prozent aller Menschen sind farbenblind.

Komplett unfähig, Farben zu unterscheiden, sind jedoch nur wenige, einer von dreißigtausend. Die meisten können nur bestimmte Farben nicht auseinanderhalten. Wer erblich farbblind ist, leidet auch unter einer Überempfindlichkeit gegen helles Licht. Die Zapfen funktionieren nicht oder fehlen. Die für Helligkeit empfindlichen Stäbchen müssen dann die gesamte Sehleistung übernehmen. Farbblindheit ist erblich und prägt sich nur aus, wenn beide Elternteile die Erbanlage besitzen und weitergeben. Am häufigsten ist die Rot-Grün-Blindheit. Männer wie Frauen geben dafür die Erbanlagen weiter, in Erscheinung tritt sie aber nur bei männlichem Nachwuchs.

Dass wir die meisten Daten über unsere Augen empfangen, hat psychologische Auswirkungen. Wir glauben in erster Linie, was wir sehen. Liefert ein anderes Sinnesorgan Informationen, die den Augen widersprechen, so ignorieren wir sie oder deuten sie so um, dass sie zu dem Gesehenen passen. Das Auge dominiert. Achten Sie einmal im Kino auf Ihre Eindrücke. Selbst wenn der Ton aus seitlichen Lautsprechern stammt, glauben Sie ohne weiteres, die Stimme käme aus dem Mund des Schauspielers, der gerade auf der Leinwand seine Lippen bewegt. Das ändert sich jedoch, wenn das Bild extrem unscharf wird oder das Kameralicht ausfällt. Dann bemerken wir sofort, dass der Ton von der Seite auf unsere Ohren trifft.

Diese Anpassung der Sinnesdaten an die Herrschaft des Auges ist eine Leistung des Gehirns, das alle Daten zu einem stimmigen Eindruck verrechnet. Das ist eine Quelle für optische Täuschungen: Das Gehirn rechnet extreme Daten der Augen auf Normalwerte um und produziert damit einen Irrtum. Meistens sind die Korrekturen des Gehirns jedoch sinnvoll. Ein weißes Blatt Papier erscheint uns bei unterschiedlichster Beleuchtung immer weiß. Warum? Wird das gesamte Blickfeld von einem einzigen Farbton überstrahlt – zum Beispiel, weil eine Neonröhre alles in grünes Licht taucht –, rechnet das Gehirn ihn heraus und stellt die natürlichen Farbunterschiede für die Wahrnehmung wieder her.

Aber die Mitwirkung des Gehirns hat noch weiter reichende Folgen. Wenn die Augen im Alter nachlassen, liegt es nicht unbedingt an einer Trübung oder Unschärfe der Linse. Mit den Jahren verringert sich auch die Leistung der Sehrinde im Gehirn. Bestimmte Nervenzellen reagieren beispielsweise nur bei waagerechten Objekten, andere bei senkrechten. Diese Unterscheidungsfähigkeit geht im Alter verloren, stellte der amerikanische Neurobiologe Audie Leventhal fest. Nervenzellen, die früher bei horizontalen Objekten feuerten, reagieren nun auch bei anderer Ausrichtung von Gegenständen. Subjektiv ergibt sich daraus ein unscharfes Bild. Diesen Effekt kann auch die beste Brille oder eine Laser-OP nicht ausgleichen.

September 2004 © by www.berlinx.de

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