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Warum wir Klatsch und Tratsch mögen

Nur eins sei schlimmer als ein schlechter Ruf, meinte einst Oscar Wilde – gar keinen Ruf zu haben. Auch im Internetzeitalter haben geflüsterte Indiskretionen nichts von ihrer Faszination verloren.

Als Ende der 90er Jahre das Gerücht aufkam, Bill Clinton habe von einer Praktikantin sexuelle Dienstleistungen empfangen, wackelte der Stuhl des mächtigsten Mannes der Welt. Wir erfuhren, welche Macht auch heute noch Gerüchte besitzen. In einer Zeit, in der sich Nachrichten in Sekundenschnelle um die Welt verbreiten! In der Dutzende von Journalisten bereit stehen, jede Art von Fakten zu beschaffen! Warum geben wir uns nicht mit bestätigten Tatsachen zufrieden? Warum lieben wir das Hörensagen – jenes Geraune vom Typ „mein Nachbar hat von seinem Neffen gehört, dass …?“

Das Gerücht unterscheidet sich in vierfacher Hinsicht von überprüfbaren Informationen:

  1. Beim Gerücht sind der Inhalt und die Form der Übermittlung nicht voneinander zu unterscheiden. Eine Tatsache bleibt eine Tatsache, egal, wer sie mitteilt. Die Wirksamkeit eines Gerüchtes hängt dagegen vom Geschick des Erzählers ab.
  2. Der Erzähler eines Gerüchts beruft sich nicht auf Fakten, sondern auf andere Erzähler.
  3. Die Quelle des Gerüchtes ist verwischt. Was alle sagen, ist noch kein Gerücht. Sondern erst das, von dem man sagt, dass alle es sagen. Und diese „alle“ sind abwesend.
  4. Gerüchte sind daher nicht zu widerlegen. Die einzige hilfreiche Strategie, um ein Gerücht zu bekämpfen: Ein Gegengerücht in die Welt setzen!

Trotz ihrer fragwürdigen Herkunft sind Gerüchte nicht von vornherein falsch. Das Gerücht von Clintons Fehltritt hat sich letztlich bestätigt. Falsche Gerüchte können unheilvoll sein – bis zum Rufmord. Ein klassisches Beispiel stammt aus dem ersten Weltkrieg. In Frankreich und England erzählte man von furchtbaren Gräueln der Deutschen: Soldatenleichen würden infolge der Kriegsknappheit zu Tiermehl und Margarine verarbeitet. Woher kam das Gerücht? 1917 war eine Tierkadaverfabrik errichtet worden. Ein englischer Journalist übersetzte „Kadaver“ mit „Leichnam“ – und das Gerücht nahm seinen Lauf. Es passte in die Atmosphäre der Kriegshysterie und verbreitete sich über Europa bis nach China.

Die Propaganda setzte daher Kampagnen gegen das Verbreiten von Gerüchten in Gang. Vergeblich! Denn überall, wo es verboten ist, bestimmte Informationen weiter zu verbreiten, springt das Gerücht in die Bresche. So wie einst in der DDR. Welche Güter demnächst knapp wurden oder ausnahmsweise an einem bestimmten Ort zu erwerben waren, stand in keiner Zeitung. Solche Nachrichten verbreiteten sich per Mundpropaganda. Mit paradoxen Effekten. In einer DDR-Wochenendbeilage erschien ein Artikel mit der Aufforderung, weniger Butter und mehr pflanzliche Fette zu essen. Sofort verbreitete sich das Gerücht, Butter würde knapp werden. Das Ergebnis waren Hamsterkäufe, und Butter wurde tatsächlich knapp.

Doch auch in unserer überinformierten Welt blühen Gerüchte wie eh und je. Mit Gerüchten üben Menschen soziale Kontrolle aus. Gerüchte stellen öffentlich erwünschte Gefühle dar. Sie können einen Ruf schaffen, aber auch zerstören. Sie entscheiden, welche Themen „in alle Munde“ sind. Im negativen Fall sprechen wir von Verleumdung. Im positiven Fall unterläuft das Gerücht die Informations­kontrolle der Staatsmacht. Wenn die Macht die Gegen­information unter Verschluss hält, erfindet der kreative Volksmund einen Ersatz – und zwingt so die Behörden, mit einem Dementi Stellung zu nehmen.

Als im zweiten Weltkrieg die Gerüchteküche blühte, untersuchten die US-Psychologen Gordon W. Allport und Leo Postman, wie sich Gerüchte verbreiten. Sie fanden heraus: Je unsicherer die Lage und je wichtiger die Botschaft, desto stärker das Gerücht. Sie inszenierten Tests nach dem Prinzip der Stillen Post. Sie gaben eine Information über einen Mord heraus und überprüften, wie sich das Gerücht im Laufe seiner Verbreitung veränderte. Sie entdeckten drei Regeln:

  1. Levelling (Einebnen): Mit jeder Runde lassen die Erzähler wichtige Details weg: Nach fünf Stationen weiß zum Beispiel niemand mehr genau, wo das Ereignis stattgefunden hat.
  2. Sharpening: Zuspitzen der Information. Aus Verdacht wird Gewissheit. Aus einem Messerstich wird eine bluttriefende Schlächterei. Aus einer Einzeltat wird ein Massenmord.
  3. Assimilation: Subjektive Einfärbung des Gerüchtes. Die Erzähler nutzen das Gerücht, um ihre Überzeugungen zu verbreiten. Sie verändern die Geschichte so, dass sie ihre Überzeugungen bestätigt.

Ein neuer Test schottischer Forscher ergab: Pikante Details wie Lügen und Untreue merken wir uns besser als Zahlen und nüchterne Daten. Unser Gehirn kann Infos über konkrete soziale Verhaltensweisen am besten verarbeiten. In Gesprächen über menschliches Verhalten erhalten wir von unseren Tratschpartner Rückmeldungen, welches Verhalten sie gut finden und welches nicht. Das hilft uns, unser eigenes Benehmen immer wieder an die Erwartungen unserer Mitmenschen anzupassen – und zugleich unsere eigenen Wünsche mitzuteilen.

Der US-Psychologe Frank McAndrew aus Galesburg in Illinois, sagte: „Wenn wir lesen, wie jemand gehandelt hat oder davon hören, hören wir sogleich auch die Meinung der Anderen über dieses Verhalten.“ Je mehr Sie über die Reaktionen anderer auf Ihr Verhalten wissen, um so besser können Sie sich auf der sozialen Leiter hinauf, herab, oder von ihr weg bewegen. Er fand heraus, dass die Leute am meisten an Geschichten interessiert waren, die von bekannten Personen in ihrem Alter handelten. So lernen wir, was als eigenartig oder schlecht gilt und welche Taten den Status verbessern.

Gerüchte können die öffentliche Moral korrigieren. Clinton gab seine Verfehlung zu und blieb trotzdem Präsident. In en 50er Jahren bedeutete ein Sexaffäre für einen Politiker das sichere Aus. Heute setzen wir andere Schwerpunkte. Wir wünschen uns, George W. Bush hätte lieber drei Praktikantinnen vernascht statt den Irakkrieg vom Zaun zu brechen. So hat das Gerücht um Clinton das öffentliche Bewusstsein dafür geschärft, worauf es bei einem mächtigen Politiker wirklich ankommt.

Unser Lesetipp:
Hans-Joachim Neubauer: Fama. Eine Geschichte der Gerüchts. Berlin Verlag 1998.

Michael Scheele: Das jüngste Gerücht. mvg-Verlag, EUR 19,90

Veröffentlicht im November 2006 © by www.berlinx.de

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