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Bücher über Erste Hilfe gibt es viele. In der Bibliothek meines Stadtbezirks füllen sie ein Regalfach aus. In vielfachen Variationen informieren sie über Hilfsmaßnahmen bei Verbrennungen, Blutungen, Knochenbrüchen, Herz- und Atemstillstand, über Druckverbände, Mund-zu-Mund-Beatmung und stabile Seitenlage. Über die psychische Seite machen sich dagegen selbst die Fachleute kaum Gedanken. Dabei ist in der Medizin längst bekannt, daß bei mindestens der Hälfte aller körperlichen Erkrankungen die Psyche ihren Anteil hat. Wie ein Unfall erlebt wird – ob zu dem körperlichen Schock noch Angst und Schrecken hinzutreten oder ob es gelingt, dem Verletzten schnell ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln – kann entscheidend für das Überleben sein.

Seelische Notfälle treten jedoch nicht nur im Straßenverkehr auf.

Das können so dramatische Situationen wie ein Selbstmordversuch oder extreme Angstzustände nach einem Überfall sein. Häufiger sind handelt es sich aber weniger spektakuläre Schwierigkeiten. Plötzliche Trennungen und Verluste habe ich schon genannt, hinzu kommen Ängste, Konflikte und scheinbar ausweglose Lebenslagen.

Das wichtigste Instrument des Helfers ist das verständnisvolle Gespräch, wobei es nicht so sehr darauf ankommt, kluge Ratschläge zu erteilen, sondern geduldig zuhören zu können, sich in die Situation des anderen einzufühlen, Ermutigung und Mitgefühl zu vermitteln. Ob naher Angehörige, guter Freund, entfernter Bekannter oder zufällig vorbeigehender Passant – jeder von uns kann von einem Moment zum anderen um Unterstützung und Rat gebeten werden. Dann ist es gut zu wissen, wie man sich optimal verhält. Ist es Ihnen nicht auch schon passiert, daß ein Freund zu Ihnen kam, um sich sein Leid von der Seele zu reden, und Sie Mühe hatten, die richtigen Worte zu finden? Oder sind Sie selbst einmal nach erlittener Demütigung an Ihrem Arbeitsplatz oder durch einen Partner zu guten Freunden gegangen, um Ihr Herz auszuschütten, und mußten Sie enttäuscht feststellen, daß Sie nur auf wenig Verständnis stießen? Was Sie als schlimm und dramatisch erlebten, darüber gingen Ihre Freunde mit einem aufmunternden Schulterklopfen und einem nichtssagenden „Wird-schon werden“ hinweg. Aber welcher Auftrieb für unser Seelenleben, wenn wir Verständnis fanden, oder wenn es uns selbst einmal gelang, einer Freundin oder einem Freund, die nicht aus noch ein wußten, neuen Lebensmut zu geben!

Sieht man sich als Fremder plötzlich einem Überfallopfer gegenüber, stellt die Situation natürlich andere Anforderungen an uns, als wenn die beste Freundin nachts bei uns klingelt, weil sie nicht mehr weiter weiß. In diesem Buch möchte ich zeigen, wie jedermann seinem Nächsten wirksam psychische Hilfe leisten und sich dabei auf unterschiedliche Personen mit ihren spezifischen Problemen einstellen kann. Das folgende Kapitel enthält die wichtigsten Kenntnisse, die Sie benötigen, um mit einem Menschen, der unter seelischem Druck steht, der ein schlimmes Erlebnis oder einen Konflikt verarbeiten muß, ein einfühlsames Gespräch zu führen. Sowohl unsere Alltagserfahrung als auch detaillierte wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, daß der verständnisvolle Dialog eines der wichtigsten und erfolgreichsten therapeutischen Mittel ist. Seine Wirkung hängt von der Art und Weise ab, wie Sie mit dem oder der Betroffenen reden. Sie erfahren, worauf Sie achten müssen, was Sie vermeiden sollten und mit welcher besonderen psychischen Verfassung Sie bei einem Gesprächspartner rechnen müssen, dessen Gefühlsleben durcheinander geraten ist. Haben Sie keine Angst, daß Sie als Laie überfordert sein könnten! Niemand erwartet von Ihnen, daß Sie das Problem Ihres Partners lösen werden. Wenn Sie erreichen, daß der andere sich erst einmal fängt – daß er merkt, da ist jemand bei ihm und läßt ihn nicht mit seinen Schwierigkeiten allein – dann haben Sie schon viel geleistet.

Auch ein ausgebildeter Psychologe kann seinen Patienten nur unterstützen. Die Kraft zur Heilung muß er in sich selbst finden. Darin unterscheiden sich psychische Probleme in keiner Weise von einer körperlichen Verletzung. Selbst Medikamente und Diätvorschriften müssen wirkungslos bleiben, wenn der Körper über keine inneren Selbstheilungskräfte verfügt. Sie können als Helfer den Betroffenen motivieren, sich auf seine Stärken zu besinnen und die Krise abzuwehren. In leichten Fällen genügt es oft schon, wenn Sie aufmerksam seinen Worten folgen und dem anderen zeigen, daß Sie seine Probleme für wichtig halten. Nicht wenige Patienten, die die Wartezimmer unserer Allgemeinärzte füllen, darunter viele ältere Leute, fühlen sich bereits viel besser, nachdem der Doktor sich geduldig die Beschreibung ihrer Leiden angehört hat.

In ernsteren Fällen müssen Sie zusätzlich wissen, wie Sie mit den Besonderheiten der Situation zurechtkommen, sei es ein Unfall, eine ausweglose Lage oder ein schwerer Familienkonflikt. In „Notfallsituationen“ und den fünf folgenden Kapiteln habe ich die wichtigsten denkbaren Vorkommnisse beschrieben, angefangen von plötzlichen Unfällen bis zu Störungen, deren Ursachen schon jahrelang zurückliegen, die aber unerwartet zum Ausbruch gelangen. Jedes Mal erfahren Sie, was Sie selbst leisten können und wann Sie Spezialisten hinzuziehen sollten. Auch in schweren Fällen – wenn Sie beispielsweise das Opfer eines Überfalls finden oder einem Menschen in Panik begegnen – können Sie als Laie entscheidende Hilfe leisten. Bei einem körperlich Schwerverletzten würden Sie wahrscheinlich auch nicht lange zögern einzugreifen, selbst wenn Ihre medizinischen Kenntnisse gering sind. Ihren Vorteil, zur rechten Zeit zur Stelle zu sein, kann kein abwesender Experte durch noch so großartige Spezialkenntnisse wett machen.

Aber in der Ersten Hilfe für die Seele haben Sie noch ein zusätzliches Plus, das Ihnen als Helfer bei körperlichen Verletzungen nicht zur Verfügung steht. Als „Laientherapeut“ können Sie – sofern Sie sich an die im nächsten Kapitel beschriebenen Methoden halten – in den meisten Fällen ebenso erfolgreich sein wie ein ausgebildeter Spezialist. Untersuchungen zur Wirkungsweise von Psychotherapien haben nämlich ergeben, daß der wichtigste Faktor, der über den Erfolg entscheidet, die Qualität der Beziehung zwischen Therapeut und Patient ist. Und die ist wiederum abhängig von individuellen Faktoren wie Interesse, Verständnis, Respekt, Wertschätzung, Ermutigung und Verzeihen von Fehlern. Dort sind Sie als Laie vor allem dann im Vorteil, wenn Sie einem guten Freund helfend unter die Arme greifen können. Denn Sie kennen einander, Ihr Freund weiß, daß Sie an seinem Wohlergehen ein persönliches Interesse haben – ein Gefühl, daß in einer anonymen Beziehung zu einem Fachtherapeuten erst mühsam erarbeitet werden muß.

Quellenangabe:

Auszugsweise Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlag Gesundheit Berlin aus dem Buch:
Erste Hilfe für die Seele von Frank Naumann
ISBN 3-333-00759-2

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