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Sieben Irrtümer über unsere alternde Gesellschaft

Politik und Medien beschwören in seltener Einhelligkeit die Gefahren einer sinkenden Geburtenrate und einer überalterten Gesellschaft. Dieses Bild ist zumindest einseitig. Denn die veränderte Alterspyramide hat auch Vorteile. Sie wird sogar unser dringendstes soziales Problem lösen.

Irrtum 1: „Eine höhere Geburtenrate würde die deutsche Bevölkerung wieder anwachsen lassen.“
Zur Zeit beträgt die Geburtenrate im Schnitt 1,3 Kinder pro Frau. Daher nimmt die deutsche Bevölkerung jährlich um 200 000 ab – das entspricht einer Großstadt wie Kassel oder Rostock. Wir hören oft, ein Durchschnitt von 2,1 Geburten pro Frau würde reichen, um die Bevölkerungszahl zu stabilisieren. Falsch! Es müssten mehr als doppelt so viele sein. Warum? Die geringe Geburtenrate seit etwa 15 Jahren sorgt dafür, dass in den kommenden Jahren weniger Frauen und Männer ins fortpflanzungsfähige Alter kommen als bisher. 2 oder 3 Kinder pro Frau reichen nicht – die Geburtenrate würde weiter sinken. Die Zahl der Mütter wäre zu gering. Diese Frauen müssten schon 5 bis 6 Kinder zur Welt bringen, damit wie bisher drei Verdiener einen Rentner ernähren können. Und dieser Effekt würde auch erst in zwanzig Jahren und danach eintreten – wenn diese Kinder ins Verdienstalter kommen. Also: Mehr Kinder werden das Rentenproblem nicht lösen.

Irrtum 2: „Weniger junge Leute bedeuten weniger Kreativität.“
Ein beliebtes Argument lautet: Ältere lassen sich keine Innovationen mehr einfallen. Eine Gesellschaft von über 30-jährigen hätte beispielsweise niemals den Computer erfunden. Sie wären bei Schreibmaschinen, Briefen und handgeschriebenen Banküberweisungen geblieben. Ab diesem Alter haben sich die Leute in ihrer gewohnten Lebensweise eingerichtet und kommen ohne Neuerungen aus. Deutschland drohe mit seinen wenigen Kindern eine Abkopplung vom technologischen Fortschritt. Falsch! Wäre das wahr, müssten Ägypten, Kenia und Indien die innovativsten Länder der Welt sein. Sie haben die höchsten Geburtenraten, der Anteil der jungen Leute beträgt dort mehr als 50 Prozent. Aber gerade in diesen „jungen“ Ländern wird Tradition und Verehrung des Alters groß geschrieben. Ob ein Land Innovationen hervorbringt, hängt vielmehr von den wirtschaftlichen Bedingungen ab: Zahlt sich Querdenken finanziell aus? Zudem stammen die entscheidenden Neuerungen nur von einer kleinen Minderheit. Dafür reicht auch eine geringe Geburtenrate aus.

Irrtum 3: „Die Zunahme der Rentner ist schuld an den Finanznöten des Staates.“
Als Bismarck die Rente einführte, gingen die Leute mit 70 in Rente. Da waren die meisten Arbeiter schon gestorben. Und heute? Immer mehr Rentner, immer weniger Beitragszahler – da droht den Kassen der Kollaps. Würde ein Anhebung des Rentenalters auf 67 oder gar 70 Jahre das Problem lösen? Nein! Für die über 65-jährigen ist gar keine Arbeit da. Schon jetzt haben wir 5 Millionen ohne Arbeit. Was der Staat an Renten einspart, müsste er statt dessen als Arbeitslosengeld auszahlen. Erst wenn Arbeitskräfte knapp werden sollten, kann man sinnvoll über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit nachdenken. Die Regierenden sollten dankbar für die geringe Geburtenrate sein. Denn aus der Erfahrung der letzten Jahre wissen wir: Nicht die Politiker werden die Arbeitslosenzahlen senken – das erreicht nur die Abnahme nachwachsender Arbeitskräfte.

Irrtum 4: „Es werden wenig Kinder geboren, weil unsere Gesellschaft kinderfeindlich ist.“
Falsch! Die wenigen Kinder, die bei uns aufwachsen, werden verhätschelt, mit teuren Spielzeugen zugeschüttet, zu verwöhnten Tyrannen erzogen. Unser Land ist nicht kinder-, sondern elternfeindlich. Über 40 Prozent unserer Akademikerinnen bekommen kein Kind, weil Kind und Karriere nicht vereinbar sind. Es fehlt an bezahlbaren Betreuungsmöglichkeiten. Andere Länder wie Frankreich, die ein staatlich garantiertes Kinderbetreuungssystem besitzen, haben weitaus weniger Probleme mit Nachwuchs als wir. Ein Kind aufziehen, ist bei uns zu einem Luxus geworden, den sich in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit kaum noch jemand leisten kann.

Irrtum 5: „Einer alternden Gesellschaft droht eine Flut hilfloser Senioren und ein Betreuungschaos.“
Viele Krankheiten wie Alzheimer und Krebs nehmen mit dem Alter zu. Einige Medien malen eine Chaos von Millionen hilflosen, bettlägerigen Heiminsassen aus, um die sich niemand kümmern will. Das ist nicht vollkommen falsch, aber maßlos übertrieben. Zur Zeit benötigen weniger als 3 Prozent der Deutschen Pflege. Mindestens drei Viertel aller Senioren können sich bis zum Lebensende selbst versorgen. Schon jetzt gibt es vorbildliche Wohnprojekte von Älteren: Jeder hat seine eigene Wohnung und man hilft sich gegenseitig. Diese Lebensform wird automatisch zunehmen, da mit dem Anteil der Älteren an der Bevölkerung auch ihre Wohndichte wächst. Ebenso falsch ist das Vorurteil, die Alten seien schuld an den steigenden Gesundheitskosten. Hilke Brockmann (Uni Bremen) ermittelte aus Daten von mehr als 430 000 AOK-Patienten: Die höchsten Kosten verursachen Schwerkranke in mittleren Jahren. Bei Betagten beschränken sich Ärzte meist auf schmerzlindernde Maßnahmen. Mit jedem Lebensjahr investieren die Ärzte weniger.

Irrtum 6: „Je älter eine Gesellschaft, desto höher die Kosten.“
Im Gegenteil. Es gibt zwar arme Rentner, aber im Schnitt besitzen die Älteren mehr Geld als die Jüngeren. Je älter eine Gesellschaft, desto reicher ist sie. Das lässt sich statistisch weltweit nachweisen. Die kinderreichsten Länder sind die ärmsten. Die Politik ist deshalb insgeheim über den Geburtenrückgang gar nicht so unglücklich. Denn weniger Kinder bedeutet für den Staat weniger Kindergeld und weniger Bildungsausgaben. Verschwiegen wird auch, was die Alten für die Jungen leisten. Über 60-jährige spendeten zu Lebzeiten an Kinder und Enkel allein im Jahr 1996 17,2 Mrd. €. Im Ehrenamt, Pflege und Kinderbetreuung arbeiten Senioren pro Jahr 3,5 Milliarden Stunden. Aus diesen Gründen unternimmt niemand der Verantwortlichen eine ernsthafte Anstrengung, das Blatt zu wenden.

Irrtum 7: „Weniger Kinder heißt mehr soziale Kälte.“
Kinder bringen Glück, Freundlichkeit, Anteilnahme und Wärme in unseren Alltag. Daraus leiten viele ein moralisches Argument ab: Wo Kinder selten werden, bleibe auch das Gemeinschaftsgefühl auf der Strecke. Auch das ist falsch. Die meisten Probleme und sozialen Konflikte verursachen junge Menschen zwischen 16 und 26. Bei Drogenabhängigen, Verkehrsunfällen und Kriminalität dominieren sie die Statistik. Nur 15 Prozent aller Autofahrer sind 18 bis 26 Jahre alt – sie verursachen jedoch ein Drittel aller Unfälle. Sinkt die Zahl junger Leute, sinkt folglich auch die Zahl der Unfälle. Ähnlich sieht es in der Kriminalitätsstatistik aus. Dass seit einigen Jahren bei uns die Zahl schwerer Verbrechen wie Morde und Sexualdelikte zurückgeht, hat den gleichen Grund. Der Anteil junger Menschen, aus denen die Täter sich rekrutieren, sinkt. Ältere sind angepasster, neigen weniger zu Delinquenz und Aggression. Kurz, eine alternde Gesellschaft ist friedfertiger. Auch das zeigt der weltweite Vergleich. In Ländern, in denen seit längerer Zeit die Geburtenrate stagniert, gibt es weniger Kriminalität als in Ländern, wo traditionell viele Kinder geboren werden.

Veröffentlicht im Juli 2005 © by www.berlinx.de

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