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Die dunklen Mächte in und um uns

Immer wenn das Tages­licht schwin­det, er­he­ben sich die Mäch­te der Finsternis. Nicht nur der Tag, auch un­ser See­len­leben hat eine Nach­tseite. Was bringt uns zum Gru­seln?

Gespenster bevölkern Märchen und Sagen. Die Philosophie hat sich bemüht, gegen den Aberglauben anzugehen. Sie hat versucht, uns die Furcht vor dem Jenseitigen auszutreiben statt sie zu erforschen. Es waren Psychologen, die sich vor gut hundert Jahren erstmals für die Wirkungs­weise der dunklen Mächte interessierten.

Der Psychiater Ernst Jentsch („Zur Psychologie des Unheimlichen“, 1906) führte das Unheimliche auf unsere Angst vor dem Unvertrauten zurück. Als Beispiel nannte er E.T.A. Hoffmann, in dessen Geschichten scheinbar beseelte Puppen auftreten. Die Unsicherheit, ob es sich um eine Mechanik oder ein lebendiges Wesen handelt, ruft das Gefühl des Unheimlichen hervor.

Doch das Unheimliche ist „un-heimlich“. Es ist das bislang Verborgene, das verborgen bleiben sollte und doch plötzlich ans Licht tritt. Diese Erklärung stammt von Sigmund Freud („Das Unheimliche“, 1919). Das Dunkle, Gefährliche lauerte schon immer im Verborgenen, wir hatten es nur nicht bemerkt. Jetzt, wo es sich plötzlich bemerkbar macht, erkennen wir mit Schrecken, wie sorglos wir bisher neben der Gefahr dahin lebten. Diese Erkenntnis ruft das Gruseln hervor.

Für Freud handelte es sich um das Verdrängte – Gedanken und Erlebnisse, die wir ins Unbewusste abgeschoben hatten. Nach C.G. Jung sind dies vor allem Mächte des kollektiven Unbewussten. Uneingestandene Wünsche und Triebe, die nicht Individuen, sondern ganze Kulturen verdrängt haben, aber sich in dunklen Stunden immer wieder Bahn brechen an die Oberfläche des Bewusstseins und dann Schrecken hervorrufen.

Zu Halloween inszenieren wir solche „Archetypen“, wie Jung sie nannte. Wir gestatten ihnen für einen Abend die Rückkehr in unsere Welt, um sie das restliche Jahr um so erfolgreicher unter dem Deckel halten zu können. Zu ihnen zählen:

Doppelgänger und wiederkehrende Tote. Verstorbene wandeln als Geister oder Untote durch die Straßen, statt friedlich unter der Erde zu bleiben. Auslöser dieser Furcht sind Doppelgänger – Personen, die einem Verstorbenen täuschend ähnlich sehen. Doch auch Doppelgänger, die Lebenden ähneln, wirken unheimlich. Als ob die Person sich geteilt habe in den ursprünglichen Körper und ihre Seele, die als Ebenbild des Körpers ein eigenes Leben führt.

Ungeziefer. Gehen Sie in den Keller, heben Sie ein Brett in einer lange vergessenen Ecke ab und erschrecken Sie über das Gewimmel von Asseln und Weberknechten. In solchen Momenten sehen wir, was wir sonst verdrängen. Dass in unseren Häusern zahlreiche (un-) heimliche Mitbewohner ihr Dasein fristen und leicht die Herrschaft über das Gemäuer übernehmen können, wenn wir sie nicht durch Hygiene, Renovieren und Aufräumen in Schach halten.

Dunkelheit. Wir wissen natürlich, dass die Dinge nicht verschwinden, wenn wir das Licht ausschalten. Aber unser Instinkt weiß davon nichts. Wir Menschen sind Augentiere, das Sehen ist unser dominanter Sinn. In völliger Dunkelheit scheint die Welt für uns zu verschwinden. (Ganz anders geht es Hunden mit ihrem geruchsdominierten Weltbild. Ihre Welt ist noch da, wenn das Licht erlischt.) Unsere unterbewusste Wahrnehmung erschrickt, wenn wir in einem dunklen Raum an einen Gegenstand stoßen, mit dem wir nicht gerechnet haben  Wenn wir nachts Geräusche hören, deren Quelle wir nicht sehen können. Alles Unsichtbare ist etwas Heimliches, das uns bei Berührung erschreckt, und dadurch un-heimlich wird.

Wirkung ohne erkennbare Ursache. Im Mittelalter zog die Pest durch das Land. Sie raffte Tausende dahin. Keiner wusste wie die Ansteckung von einer Person zur nächsten zog. Ein Sensenmann, der übers Land wanderte, durch unsichtbare Berührung seine Opfer auswählte? Heute wissen wir, dass Bakterien durch Ratten bzw. deren Flöhe übertragen wurden. Dafür haben wir neue Schrecken erfunden, zum Beispiel unsichtbare Strahlen, die aus zerstörten Kernkraftwerken Leukämie über das Land tragen. Nicht einmal die Wissenschaft kann sich unheimlichen Wirkungen entziehen. Astronomen sprechen zum Beispiel von „dunkler“ Materie und Energie, die 95 Prozent des Universums ausmachen sollen. Die Bezeichnungen sagen nicht weiter als: Keine Ahnung, worum es sich handelt. Wir kennen nur ein Zwanzigstel der Ursachen von den beobachteten Wirkungen.

Außergewöhnliche Fähigkeiten. Es gibt Menschen, die zu jedem Datum sofort den Wochentag wissen. Andere überfliegen zahlreiche Buchseiten mit einem Blick und können sie dann auswendig wiedergeben. Ein anderer fliegt im Hubschrauber einmal über London hinweg und kann dann die Stadt mit jedem Gebäudedetail aus dem Gedächtnis zeichnen. Zugleich brauchen diese Menschen Hilfe, weil sie nicht allein ihr Essen einkaufen können. Man nennt sie Savants oder Inselbegabungen. Doch selbst das „normale“ Genie wirkt unheimlich auf uns. „Genie und Wahnsinn liegen oft dicht beieinander“, sagt der Volksmund und manchmal stimmt das sogar. Etwa bei dem Mathematiker und Nobelpreisträger John Nash, der an paranoider Schizophrenie erkrankte und dessen Leben unter dem Titel A Beautiful Mind verfilmt wurde. Der ungarische Forscher Szabolcs Kéri fand 2009 eine Genvariante, die sowohl Originalität fördert als auch die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen erhöht.

veröffentlicht im Oktober 2012 © by www.berlinx.de

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