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Sie ist längst zu einem Comedy-Klischee geworden: Die Frau, die händeringend vor dem vollen Kleiderschrank ruft: „Ich habe nichts anzuziehen!“ Einen Mann kann man sich in dieser Situation kaum vorstellen. Warum?

Ein junges Paar geht zusammen shoppen. Im Bekleidungsgeschäft fasst sie jedes Teil an, prüft den Stoff mit den Fingern, hält sich ein Dutzend Oberteile vor ihre Vorderfront mit kritischem Blick. Sie verschwindet mit mehreren Teilen in der Umkleidekabine, bringt nach einer Weile alles zurück und wiederholt den ganzen Vorgang noch einige Male. Am Ende kauft sie nichts. Ihr Partner sucht eine Hose. Nach kurzem Blick auf die Auswahl greift er zielgerichtet nach einer Hose, probiert sie in der Kabine an, sagt „Passt“ und marschiert zur Kasse.

Männer halten ihr Aussehen meistens für besser als es tatsächlich der Fall ist. Umgekehrt beurteilen viele Frauen ihr Erscheinungsbild sehr kritisch. Sie sind mit ihrem Aussehen nie zufrieden. Daher der weibliche Verzweiflungsschrei: „Ich hab nichts anzuziehen!“ Natürlich sieht sie, dass der Schrank überquillt. Sie würde die weiße Bluse schon anziehen – aber nicht wieder mit dem gleichen schwarzen Rock wie letzten Monat. Mit dem grünen oder gelben? Das sähe einfach verboten aus. Für die brauchte sie eine rote Bluse, aber ausgerechnet die fehlt in ihrer Sammlung. Wenn sie statt dessen eines ihrer vier Dutzend Kleider nähme? Die sind zu hell, zu dunkel, zu bunt, zu eintönig, zur Zeit nicht im Trend, zu unvorteilhaft – zumindest bis zur nächsten Diät –, zu sexy, zu bieder, zu schick, zu schlicht, also einfach nicht perfekt. Und mit einem Kleid, an dem nur ein Detail nicht stimmt, geht sie nicht aus dem Haus. Wenn ihr Typ das nicht sieht, nun ja. Aber vor den Frauen seiner Kollegen würde sie sich in Grund und Boden schämen.

Psychologen sagen: Wer sich selbst überkritisch beurteilt, leidet unter mangelndem Selbstwertgefühl. Heißt das Männer haben ein gesünderes Selbstbewusstsein? Durchaus nicht. Auch viele Männer leiden unter Selbstzweifeln. Doch während sich innere Unsicherheit bei Frauen auf dem Gebiet des Aussehens zeigt, zweifeln Männer eher an ihrer beruflichen Tüchtigkeit. Männer stürzen in eine tiefe Krise, wenn sie den sicher geglaubten Job verlieren. Ein typisch männliches Klischee dreht sich um den Kerl, der nach seiner Entlassung weiter jeden Morgen aus dem Haus geht und vor seiner Familie so tut, als stände er noch in Lohn und Brot.

Die Suche der Frauen nach dem perfekten Kleid hat nicht nur Nachteile. Sie sind in der Lage die Möglichkeiten zu nutzen, die in gutem Aussehen liegen – auch für ihre Karriere. Die meisten Männer ahnen dagegen nicht einmal, wie sehr stilvolle Kleidung ihre Chancen verbessern würde. Nicht nur m Job, sondern auch bei den Frauen. Männer grämen sich, weil ihr bestes Stück kürzer als 20 Zentimeter ist, aber nicht wegen ihres Schlabberlooks.

Kaum ein Mann ahnt, wie stark ein besseres Outfit seine Chancen bei den Frauen erhöhen würde. Die Anthropologen John Marshall Townsend und Gary Levy fotografierten dieselben jungen Männer einmal in Burger-King-Uniform mit blauem Basecap und Polohemd, ein andermal in weißem Hemd mit Designerkrawatte, marineblauem Blazer und Rolex-Uhr. Dann mischten sie die Fotos mit Bildern anderer Männer und ließen Frauen entscheiden, welcher von den Jungs für Sex beziehungsweise Heirat infrage käme. Das Ergebnis war eindeutig. Obwohl es sich um denselben Kerl handelte, gelangte er nur im eleganten Outfit in ihre engere Wahl.

Mehr Infos zu diesem Themen veröffentlichte unser Autor in:
Frank Naumann: Schöne Menschen haben mehr vom Leben. Die geheime Macht der Attraktivität. S. Fischer, € 8,95.

Veröffentlicht im März 2007 © by www.berlinx.de

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