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Beneiden Sie manch­mal Kinder um ihre naives Staunen über Dinge, die uns längst selbst­ver­ständlich sind? Diese Fähigkeit lässt sich wieder er­lernen.

Sommer. Sie hören das Summen einer Mücke. Zuschlagen, zerquetschen, eine automatische Abwehr. Schon ist Ruhe – bis zur nächsten Mücke.

Haben Sie in dem Moment daran gedacht, was für ein wunder­barer Natur­apparat so eine Mücke ist? Kein High-Tech-Ingenieur kann sie nach­bauen. Wie kann sie mit ihrem Mini­hirn ihre Flügel steuern? Wie zielsicher sie ihre Opfer ansteuert und ohne Probleme unsere Adern findet!  So manche Kranken­schwester, die Patienten Blut abnehmen soll, dürfte die Mücke um ihre Perfektion beneiden.

Ob Produkt der Evolution oder Gottes Geschöpf – wir wissen nicht, wie sie zu dem Erfolgs­wesen wurde, das sie ist. Wir können nur staunen. Falls wir bereit sind, uns auf die alltäg­lichen Wunder um uns herum einzulassen.

Der Feind des Wunder­baren ist die Routine. Was wir oft erlebt haben, wird zur Selbst­verständ­lichkeit. Wir hören auf zu staunen. Für kleine Kinder dagegen ist alles neu. Mit der Zeit lernen sie, wie viele Dinge sich verlässlich wieder­holen. Das Staunen hört auf.

Ohne Routine könnten wir den Alltag mit einem Termin­druck nicht bewältigen. Doch Routine schadet uns, wenn sie das Über­raschende aus unserer Welt verbannt.

Entdecker und Erfinder brauchen die Fähigkeit zu staunen. Der Philosoph David Hume behauptete einst: Nur weil wir die Sonne jeden Tag aufgehen sehen, können wir nie völlig sicher sein, dass sie es morgen auch tun wird. Freilich sagen uns Newtons Gesetze der Schwerkraft, dass die Planeten­bahnen sehr zuverlässig funk­tionieren und es auch in Millionen Jahren noch tun werden. Aber was Schwer­kraft ist, konnte auch er nicht erklären. Erst die moderne Physik konnte mit Relati­vitäts­theorie und dem Higgs-Teilchen den Vorhang über dem Rätsel ein Stück weit lüften.

Eine moderne Version von Humes Problem zeigt uns sofort, wo der Haken liegt: Ein Huhn lernt mit jedem Lebenstag mehr, auf seinen zuver­lässigen Fütterer zu vertrauen. Es ahnt nicht, dass diese Zuver­lässigkeit bald abrupt enden wird – wenn es im Koch­topf landet.

Philosophie hilft, die Fähigkeit des Staunens neu zu lernen. Sie stellt das Selbst­verständ­liche infrage. Warum können wir überhaupt etwas wissen? Gibt es sicheres Wissen? Mit welchen plötzlichen Verän­derungen müssen wir rechnen? Wie stellt man sich darauf ein? Mit etwas geistiger Übung kehrt das Staunen in unser Denken zurück:

Inne halten. Statt das übliche Verhalten abzuspulen, überlegen Sie: Warum habe ich diese Gewohnheit? Seit wann? Was war der Grund? Was wäre, wenn ich andere Bahnen eingeschlagen hätte? Was geschähe, wenn ich mich ab heute anders verhalten würde? Und wie?

„Wieso“ fragen. Im Alltag fragen wir meist nach dem Wie. Wie macht man das? Wie mache ich das am effektivsten? Wie bekomme ich das, was ich möchte? Fragen Sie statt dessen, wieso Sie sich dieser Routine unterwerfen. Was geschehen würde, wenn Sie ab heute genau das Gegenteil täten. Das öffnet Türen zur Selbst­erkenntnis.

Unverständnis zugeben. Wir neigen dazu, für alles eine Erklärung parat zu haben. Der Grund ist unser seelisches Bedürfnis, uns vor uns selbst (und anderen) zu recht­fertigen. Wer möchte schon zugeben, dass er etwas Sinnloses getan hat, was er genauso gut hätte unter­lassen können. Vor allem dann, wenn das eigene Handeln Konse­quenzen hat. Der Satz „Eigentlich verstehe ich es nicht“ ermöglicht einen inneren Neustart.

Staunen ist nicht nur ein nettes geistiges Hobby. Es ist gut für die see­lische Gesundheit. Denn Staunen weckt

  • Neugier: Wer überrascht wird, sucht Erklärungen. Die Welt erscheint als ein Abenteuer, das man gern bestehen möchte.
  • Problembewusstsein: In der Welt sind durchaus nicht alle Rätsel gelöst. Wir erkennen staunend, wie viele ungenutzte Möglichkeiten auf ihre Entdeckung warten.
  • Offenheit: Fertige Erklä­rungen sind bequem, aber häufig nur eine Ausrede für „Ich will nicht weiter darüber nach­denken“.
  • Jugend: Wer staunt, erwirbt eine Geistes­haltung, die wir mit Jugend verbinden. Man ist bereit, Neues zu lernen, sich überraschen zu lassen, sich positiv auf die Umwelt einzulassen.

Sobald Sie staunen, dass Sie wieder staunen können, haben Sie es geschafft.

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veröffentlicht im September 2014 © by www.berlinx.de

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