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Warum Nichtwisser Besser­wissern über­legen sind

Woran erkennt man einen Philo­sophen? An seinem akade­mischen Abschluss oder an klugen Reden? Weder – noch. Ein Philo­soph stellt Fragen, wo alle übrigen glauben, die Antwort längst zu kennen.

Sokrates ging jeden Tag auf den Athener Markt­platz, und verwickelte Bürger in eine Unterhaltung. Er setzte die Miene eines unwis­senden Laien auf, der Be­lehrung sucht. Ungefähr so:

  •  „Was bist du von Beruf? Soldat? Dann kannst du mir doch bestimmt erklären, was Tapfer­keit ist.“
  •  „Na klar“, erklärte der Ange­sprochene ge­schmei­chelt. „Wer auch vor einem über­legenen Feind nicht zurück­weicht, ist tapfer.“
  •  „Und wenn er nur deswegen ausharrt, weil sein ehr­süchtiger Offizier droht, jeden hin­richten zu lassen, der bei einem verlo­renen Kampf sein Leben für eine spätere Revanche bewahren will? Wer ist da tapfer? Der seinen Offizier fürchtet oder wer ihm mutig ent­gegen­tritt?“
  •  „Na ja, wer einem unfähigen Heer­führer trotzt, ist sicher besonders tapfer.“
  •  „Ja, woran erkennt man dann aber in so einem Fall den Tapferen? Wann es mutig sein kann, einer Gefahr auszu­weichen?“
  •  „Dann sage ich: Tapfer ist, wer sich dem Verhalten der Mehrheit widersetzt.“
  •  „Wenn hundert Mann in Panik flüchten, aber sich tausend Mann der Gefahr entgegen­stellen?“
  •  Daraus konnte ein mehr­stündiges Gespräch werden. Mit seinen Fragen weckte Sokrates Zweifel an vorschnellen Urteilen, ohne sich selbst auf eine bestimmte Ansicht festzulegen. Er verun­sicherte seine Gesprächs­partner und raubte ihnen den naiven Glauben, Bescheid zu wissen. Ein gefähr­liches Verhalten – für Sokrates. Einige miss­günstige Bürger brachten ihn vor Gericht, das ihn unter einem Vorwand zum Tode verurteilte.

Sicher kennen Sie Sokrates’ Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Damit weiß er mehr als diejenigen, die nicht wissen, dass sie nichts wissen! Trotzdem gab es immer wieder Philo­sophen, die ein für alle Zeiten gültiges System von All­wissen erar­beiten wollten. Vergebliche Mühe! Stets fanden sich andere Philo­sophen, die solche Systeme wieder in Frage stellten – indem sie naive, sokratische Fragen stellten.

Die älteste Frage der Philo­sophie lautete: „Was ist der Ursprung der Welt?“ Thales von Milet, der als der erste abend­ländische Philo­soph gilt, antwortete: „Alles kommt aus dem Wasser.“ Andere Philo­sophen sahen den Ursprung im Feuer oder in einem geheimnis­vollen Urstoff. Demokrit gab 400 Jahre vor Christus eine sehr moderne Antwort: Die Welt entsteht aus unteil­baren Teilchen, den Atomen.

Je mehr sich unsere Fragen dem Urgrund aller Dinge nähern, desto schwieriger wird es, überhaupt noch Antworten zu finden. Und wo es keine Antworten mehr gibt, wird auch das Weiter­fragen sinnlos. Nehmen wir die beliebte Frage: „Warum gibt es überhaupt etwas und nicht einfach nichts?“

Kosmologen verweisen auf den Urknall. Leider wissen sie nicht, was vor dem Urknall war. Das Nichts? Die Philosophie antwortet seit Hegel: Das Nichts ist ein negativer Begriff. Er hat keinen Inhalt. Er ist nur die Verneinung des Begriffs Sein. Wer die Frage nach dem Nichts stellt, hat sie schon beantwortet: Gäbe es nur das Nichts, wäre niemand da, der die Frage nach dem Nichts stellen könnte.

Das klingt nach einem rheto­rischen Trick. Sind wir mit dieser Antwort schlauer geworden? Nein. Die Grenzen des Wissens werden nicht mit letzten Antworten erreicht, sondern mit letzten Fragen.

Hilfreicher ist es, unseren Alltag mit philoso­phischen Fragen zu durchdringen. Also nahe an der erleb­baren Wirk­lichkeit zu bleiben.

Sollte man zum Beispiel einen Seiten­sprung beichten? Ist es wichtiger ehrlich zu sein oder die Gefühle des andern zu schonen? Schon sind wir mitten in einem mora­lischen Dilemma. Fragen wir tiefer: Warum gibt es überhaupt Seiten­sprünge? Weil wir Treue und Monogamie hoch halten. Warum tun wir das?

Beobachten Sie einen Party-Smalltalk zu diesem oder einem ähnlichen Thema. Sie können dabei vier Gruppen von Teil­nehmern unterscheiden:

  • Besserwisser: Sie wissen genau, wie „man“ sich in so einer Situation verhalten sollten, was richtig und was falsch ist.
  • Relativisten: Sie wägen das Für und Wider ab und halten mehrere Alter­nativen für gleich gut.
  • Individualisten: Sie halten es für eine Charakter­frage. Ich würde mich so verhalten, aber wenn du anders darüber denkst – deine Sache.
  • Philosophen: Sie stellen Fragen nach den genauen Umständen und bezweifeln, dass es überhaupt eine allgemein gültige Antwort geben kann.

Die philoso­phische Haltung enthält auch eine Gefahr. Wegen ständigen Nachdenkens und Zweifelns ist der Philosoph am Ende unfähig, eine Entscheidung zu treffen und zu handeln. Das zeigt der Lebenslauf der berühmten Philosophen. Die einen haben sich in eine Art Elfen­beinturm zurück­gezogen, die anderen in den Dienst der herrschenden Macht gestellt. In der Antike traf das auf Aristoteles zu, im 20. Jahrhundert auf Heidegger. Widerstand aus einer philosophischen Haltung heraus leisteten Sokrates und in neuerer Zeit Jean-Paul Sartre.

veröffentlicht im Oktober 2014 © by www.berlinx.de

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