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Wie bin ich wirklich?

„Erkenne dich selbst“ soll in der Antike über dem Tor zum Orakel von Delphi gestanden haben. Die moderne Psychologie bestätigt: Wer über sich Bescheid weiß, kann seine Talente entfalten, gestaltet  bessere Beziehungen und lebt im Einklang mit sich selbst.

Auf den ersten Blick scheint nichts einfacher zu sein als der direkte Kontakt mit der eigenen Seele. Bin ich doch der einzige, der die Stimme meines Bewusstseins hört. Jeder andere kann nur aufgrund meines Verhaltens vermuten, was in mir vorgehen könnte. Was ich wirklich denke, weiß nur ich.

Doch wie kommt es dann, daß Tausende sich auf die Couch eines Psychoanalytikers legen, um mehr über sich zu erfahren? Daß sie Horoskope, Wahrsager und Persönlichkeitstests konsultieren? Ihre Freunde und Liebhaber fragen: „Was hältst du von mir?“ Immer wieder überraschen uns unsere eigenen Handlungen. Wir tun Dinge, die wir uns nie zugetraut hätten und unterlassen andere, denen wir uns vollkommen sicher waren.

Sigmund Freud gab vor hundert Jahren die erste einleuchtende Erklärung für dieses Phänomen. Der innere Monolog, den unsere innere Stimme unablässig vor sich hin spricht, enthüllt nur den bewußten Teil unserer Seele. Der wichtigere, größere Teil unserer Triebe und Wünsche bleibt unbewußt. Er enthüllt sich nur in seltenen Momenten – in Träumen, kreativen Phantasien und irrationalen, scheinbar unmotivierten Taten.

 

Wüßten wir intuitiv über uns Bescheid, wäre die Wissenschaft der Psychologie überflüssig. Da die Seele sich selbst jedoch zum großen Teil ein Rätsel ist, benötigen Sie eine systematische Methode, um sich gut kennenzulernen. Es lohnt sich. Schließlich sind Sie der einzige Mensch, mit dem Sie ein Leben lang ununterbrochen, 24 Stunden am Tag, zusammen sind. Damit Ihnen Ihr Unterbewußtsein in entscheidenden Situationen keine böse Überraschung bereitet, verschaffen Sie sich einen genaueren Blick in Ihre Seele, der den meisten Menschen lebenslang verwehrt bleibt. Welche Informationen brauchen Sie dafür?

 

Streng genommen, verfügen Sie nicht nur über eine, sondern drei Beschreibungen Ihres Charakters:

Selbstbild: Wie Sie sich selbst sehen.

Idealbild: Wie Sie gern sein möchten.

Fremdbild: Wie andere Sie sehen.

Je mehr diese drei Bilder sich ähneln, desto mehr leben Sie mit sich im Einklang und vermitteln anderen den Eindruck eines aufrichtigen, sympathischen Charakters. Unterscheiden sich die drei Bilder stark, wirkt der Betreffende im besten Falle geheimnisvoll. Wahrscheinlich aber werden ihm die meisten mit Abstand und Mißtrauen begegnen, weil das, was er von sich behauptet, nicht mit seinem Verhalten übereinstimmt.

 

Die meisten Menschen kennen ihr Idealbild recht gut. Sie sehen sich so, wie sie gern sein möchten. Ihren wahren Charakter – alles, was in ihrem Verhalten nicht mit ihrem Idealbild übereinstimmt – verdrängen sie. Sie bewerten ihr Selbstbild als vorübergehende Abweichung von ihrem idealen Selbst, zu der sie aufgrund der Umstände gezwungen wurden. Auch Ihr Wissen von ihrem Fremdbild ist lückenhaft. Komplimente – also die positiven Seiten des Fremdbildes – saugen sie gierig auf, Kritik – also seine negativen Seiten – wehren sie ab.

 

Selbsterkenntnis heißt daher, sich den bisher verdrängten Seiten Ihres Ich zuzuwenden. Lernen Sie Ihre drei Bilder von sich genauer kennen. So gehen Sie vor:

 

Selbstbild: Stellen Sie sich vor, Sie wären für sich eine fremde Person, von der sie aufgrund ihrer Handlungen eine Charakterbeschreibung anfertigen sollen. Wenn Sie Ihr Leben Revue passieren lassen – welche Eigenschaften hat eine Person, die genau das erlebt und getan hat, was Ihnen begegnete? Beurteilen Sie Ihre Taten so objektiv wie möglich. Ignorieren Sie für einen Moment Ihre innere Stimme, die sofort für alles eine Entschuldigung parat hat. Es geht nicht darum, sich zu loben oder zu verurteilen. Schreiben Sie nur die Charaktereigenschaften auf, die Sie dahinter vermuten. Achten Sie besonders auf typischen Verhaltensweisen. Auf Handlungen, zu denen Sie immer wieder neigen. Wie reagieren Sie unter Stress, bei Ungerechtigkeit, bei Erfolgen und wenn Sie scheitern?

 

Idealbild: Es geht nicht um Ihre Träume, als Popstar, Nobelpreisträger oder Olympiasieger zu glänzen. Beantworten Sie sich vielmehr die Frage: Wie möchte ich sein? Was ist der ideale Charakter, den ich gern hätte? Stellen Sie sich vor, Sie wollten einen Roman schreiben und den positiven Haupthelden nach Ihrem Vorbild – als Ihr besseres Ich – gestalten. Entwerfen Sie auf einer Seite Ihr ideales Charakterbild.

 

Fremdbild: Es ist am schwersten zu erlangen. Um Ihr Fremdbild zu erfahren, müssen Sie Ihre Freunde und Bekannten heranziehen. Doch wenn Sie fragen: „Sag mir aufrichtig, wie du meinen Charakter beurteilst!“ werden Sie keine aufrichtige Antwort bekommen. Ihre Freunde sind höflich und werden Ihnen antworten, was nach ihrer Meinung für Ihre Ohren angenehm klingt. Sie müssen daher zu einem Trick greifen. Auf Ihrer nächsten Party, zu der Sie alle einladen, veranstalten Sie ein Psycho-Spiel, das Ihnen die gewünschten Informationen verschafft. So gehen Sie vor:

Sie entwerfen und vervielfältigen vorher eine Liste mit ungefähr zwanzig Paaren von Charaktereigenschaften, zum Beispiel „kontaktfreudig/schüchtern“, „aktiv/passiv“, „emotional/rational“ usw., die Ihnen für Ihre Selbstbeurteilung wichtig erscheinen. Wählen Sie nicht nur Eigenschaften, die Ihnen an sich selbst, sondern auch solche, die Ihnen an andern auffallen. Was Sie an anderen bemerken, verrät viel über Sie selbst. (Verzichten Sie auf wertende Begriffe wie „sympathisch/unsympathisch“ oder „aufrichtig/verlogen“. Die Antworten, die Sie darauf erhalten würden, verraten Ihnen höchstens, ob Ihre Freunde Sie leiden können oder nicht.) Zu jedem Eigenschaftspaar lassen Sie drei Antwortmöglichkeiten zum Ankreuzen zu, nämlich die beiden Gegensätze, sowie einen Mittelwert, der eine unauffällige Ausprägung des jeweiligen Charakterzugs beschreibt. Zum Beispiel:
„meist aktiv – teils mäßig aktiv, teils eher passiv – meist passiv“.

Lassen Sie jeden Ihrer Gäste den Bogen für jeden Anwesenden (außer für sich selbst) ausfüllen. Und zwar anonym. Das heißt, auf dem Fragebogen erscheint nur der Name der zu beurteilenden Person, aber nicht der Name des Beurteilers. Einige Ihrer Gäste werden einwenden, dass Sie einander nicht kennen. Sie sollen den Bogen trotzdem ausfüllen und Ihre Vermutungen aufgrund des ersten Eindrucks auf Ihrer Party eintragen. Am Ende des Bogens können sie vermerken, wie gut Sie die beurteilte Person kennen.

Am Ende sammeln Sie alle Bögen ein und verteilen Sie neu zur Auswertung. Jeder wertet alle Bögen einer anderen Person (also nicht für sich selbst) aus, indem er zusammenzählt,  wie oft jede der drei Antwortmöglichkeiten vergeben wurde. Daraus wird das Fremdbild der Gruppe für jeden erstellt. Dann übergeben Sie jedem Gast „seine“ Bögen + Auswertung und stellen ihm frei, ob er sie aufhebt oder vernichtet. Sie selbst heben Ihre Fremdbilder gut auf.

 

Vergleichen Sie nun Ihre drei Bilder miteinander. Bilden Sie keinen Mittelwert! Sondern prüfen Sie:

Wie sehr stimmen Ihre drei Bilder überein? Bei einer Übereinstimmung von 80 Prozent und mehr sind Sie eine in sich stimmige, kongruente Persönlichkeit. Liegt die Übereinstimmung unter 60 Prozent, ist Ihr Charakter von inneren Widersprüchen gekennzeichnet. Wo liegen diese Gegensätze? Warum handeln Sie oft anders als Sie beabsichtigen? Warum verhalten Sie sich mal so, mal anders?

Haben einige Ihrer Charaktereigenschaften eine auffällig extreme Ausprägung? Sind Sie extrem empfindlich, leicht reizbar oder verfügen Sie über ungewöhnliche Vorlieben und Abneigungen? Es besteht die Gefahr, dass Ihre Umwelt an Ihnen nur diese extremen, auffälligen Eigenschaften wahrnimmt und sie mit Ihrem Gesamtcharakter gleichsetzt. Überwiegen bei Ihnen dagegen die durchschnittlichen Eigenschaften, sind Sie ein Mensch ohne Ecken und Kanten. Man findet Sie wahrscheinlich sympathisch, aber Sie werden oft übersehen und vernachlässigt.

Welches der drei Bilder ist das positivste? Ist Ihr Idealbild das schönste, bleiben Sie hinter Ihren Ansprüchen an sich selbst zurück. Es kann auch sein, daß Ihre Ansprüche an sich selbst unrealistisch und unerfüllbar sind. Ist Ihr Selbstbild positiver als Ihr Fremdbild, gelingt es Ihnen offenbar nicht, Ihre positiven Seiten anderen Menschen zu vermitteln. Im umgekehrten Fall – das Fremdbild ist besser als Ihr Selbstbild – sehen Sie sich selbst übertrieben selbstkritisch. Sie leiden unter geringem Selbstbewusstsein.

veröffentlicht im Januar 2003 © by www.berlinx.de

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