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Die verborgenen Seiten des Ichs

Wir Deutschen wollen stark und tüchtig sein. Von Schwäche und Versagen redet keiner so gern. Egonet tut es.

Lisa ist eine erfolg­reiche Ärztin. Sie hatte im Abitur lauter Einsen und war im Studium durch keine Prüfung gefallen. Ihr Warte­zimmer ist immer voll. Eine tüchtige Tochter, sagen ihre Eltern mit Stolz.

Wovon Lisa nicht so gern spricht: Ihre Bezie­hungen sind allesamt gescheitert. Sie hätte gern Kinder, aber inzwischen ist sie 35 und kein potentieller Vater in Sicht. Sie erzählt niemandem von ihren Ängsten, Patienten durch einen Kunst­fehler zu schaden. Manchmal liegt sie nachts wach: Hätte ich die Frau Müller mit dem hart­näckigen Husten nicht doch in Fachklinik überweisen sollen?

Wir leben in einer Wettbewerbs­gesellschaft. Sie feiert den Triumph der Starken. Schwäche zeigen bedeutet, hinter der Konkurrenz zurück­zubleiben. Das Überleben der Tüchtigsten gilt als Naturgesetz. Zu Unrecht. Dinos, Säbelzahntiger und Mammut sind ausgestorben. Das Erfolgsmodell der Natur sind die Bakterien. Sie haben alle Katastrophen überdauert. Schon Darwin wusste: Nicht die Stärksten, sondern die Bestangepassten setzen sich durch. Bakterien leben in perfekter Symbiose mit ihrem Milieu und können sich in kurzer Zeit an veränderte Bedingungen anpassen.

Der Glaube, wer Erfolg haben wolle, müsse stark sein, hat Konsequenzen:

Versagen erscheint als persönliches Problem. Wir wehren uns gegen den Verdacht, wir hätten nicht alles im Griff. Bloß keine Blöße geben! Immer eine starke Fassade zeigen! Ständig eine lächelnde Maske der Unangreifbarkeit präsentieren zu müssen, kostet Kraft. In Wahrheit produziert unsere Gesellschaft die Versager, weil sie die Menschen in Gewinner und Verlierer teilt.

Die vielen ohne Macht sind „ohn-mächtig“. Prinzipiell bietet unsere Gesellschaft Bildung, Konsum und Mitwirkungschancen. Theoretisch. In der Wirklichkeit bleiben uns viele Möglichkeiten verschlossen. Wer seine Rechte nutzen will, muss sich auskennen oder Spezialisten bezahlen können.

Die Erfahrung der Schwäche lässt uns innehalten. Mächtige poltern einfach drauf los wie er sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Erst ein Scheitern zwingt zum Nachdenken. Warum gelingt mir nicht, was anderen gelingt? Was habe ich falsch gemacht? Wir erkennen Fehler und empfinden Reue wegen unserer Irrwege. Reue zwingt, Bilanz zu ziehen und sich selbst neu zu erfinden. Sie ist der Anfang eines Philosophierens, um vom Überlegen zu Überlegenheit zu gelangen.

Persönliche Stärken als Kompensation. Es fällt leichter, sich mit seinen Schwächen anzufreunden, wenn man zugleich seine Stärken pflegt. Das müssen keine großartigen Erfolge sein. Ein Talent, das wir im Stillen entwickeln, ist oft hilfreicher. Warum soll ich alle Seiten meiner Persönlichkeit einer öffentlichen Beurteilung aussetzen? Lisa zum Beispiel singt gern – in der Badewanne oder am Lenkrad ihres Autos. Freilich gibt sie viele falsche Töne von sich. Was soll’s? Sie hat nicht vor, öffentlich aufzutreten. Es macht ihr Freude, sie entspannt sich und fühlt: Das ist meins.

veröffentlicht im Februar 2014 © by www.berlinx.de

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