Wie wir entscheiden, was gut für uns ist
Wir glauben, frei zu wählen nach persönlichen Vorlieben und Abneigungen. In Wirklichkeit lassen wir uns beeinflussen, indem wir uns mit anderen vergleichen.
Zwei Begriffe spielen als Maßstab eine besondere Rolle.
Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass zitierte vor fünfzig Jahren in seinem Theaterstück „Davor“ (Romanfassung unter dem Titel „örtlich betäubt“) folgende Zahlen über Karies. Bei den polynesischen Ureinwohnern hatten nur 0,32 Prozent Karies – Zahnfäule war nahezu unbekannt. Als jedoch die europäische Zivilisation mit den modernen Ernährungsgewohnheiten Einzug hielt, stiegen die Kariesfälle auf 21,9 Prozent.
Zahnfäule als absolute Ausnahme – das ist natürlich. Löcher in den Zähnen und jede Menge Plomben als Folge von massenhafter Zahnfäule – das ist normal. „Natürlich“ und „normal“ sind also keineswegs dasselbe. Trotzdem werden beide häufig verwechselt. Was durch lange Gewohnheit normal geworden ist, halten wir allmählich auch für natürlich.
Ein fataler Irrtum mit heiklen Konsequenzen. Armut, Kriege und Hunger sind normal, aber keineswegs natürlich. Das gilt auch für Naturkatastrophen. Zwar gäbe es Tsunamis und Erdbeben auch ohne unseren Einfluss auf Klima und Bodenerosion. Doch an den katastrophalen Folgen sind wir Menschen schuld. Wir siedeln an eingezwängten Flüssen und in Überschwemmungsgebieten. Wir errichten Millionenstädte in Erdbebenzonen. Wir vervielfachen die Klimaextreme, indem wir den Planeten aufheizen.
Wenn es um Technik geht, liegt die Sache einfach. Auto, Handy, Fernseher, WCs und beheizte Häuser sind nicht natürlich, aber für uns normal. Auch wenn mehr als eine Milliarde Menschen noch nie eine hygienische Toilette benutzen durften.
Doch was ist mit der menschlichen Natur? Zum Beispiel der Ernährung oder Krankheiten? Was kann natürlicher sein als Essen oder Trinken?
Weil Industrienahrung voller Chemie steckt, schwören Naturfans auf Rohkost, Einkauf auf dem Biohof und selber Kochen. Doch Schweine, Hühner, Kühe, Broccoli, Äpfel, Roggen, ja sogar unser Trinkwasser sind Kulturprodukte. Keines dieser Grundnahrungsmittel kommt in der freien Natur vor. Unsere Vorfahren haben sie „kultiviert“. Vegane Rohkost ist weder normal, noch natürlich. Wer sich so ernährt, folgt dem heutigen Zeitgeist und Erkenntnissen modernster Gartenkultur.
Ähnlich steht es mit Krankheit und Gesundheit. Natürlich wäre es, in jungen Jahren an eine Infektion wie Typhus oder Tetanus zu sterben. Bis ins 19. Jahrhundert lag die Lebenserwartung des Menschen bei dreißig bis vierzig Jahren. Man starb an Infektionen, Unfällen oder Hunger. Heute ist es normal, achtzig Jahre zu werden und an Alzheimer, Krebs, Herzinfarkt oder Diabetesfolgen zu sterben – den Zivilisationskrankheiten.
Wenn heute etwas „natürlich“ nennt, will in erster Linie ein Verhalten rechtfertigen. Die Geschichte der Menschheit hat jedoch schrittweise das Natürliche durch Kultur ersetzt – und das war in vielen Fällen ein Segen. Kinderlähmung, Pocken und Masern waren dank Impfungen verschwunden. Bis Impfgegner, die das massenhafte Erleiden von Infektionen für natürlich und deshalb zugleich für normal halten, den Keimen neue Angriffsflächen boten.
veröffentlicht im April 2015 © by www.berlinx.de
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