Der illusionslose Blick des Menschen auf sich selbst
Wer bitterböse Wahrheiten aussprach,
stempelte sich über Jahrhunderte zum Außenseiter.
Inzwischen hat der Zyniker über Comedy und Kabarett die Mitte der Gesellschaft erobert.
Egonet liefert eine kleine Verteidigung für moderne Zyniker.
In der griechischen Antike hießen sie noch Kyniker. Antisthenes und Diogenes, der in einer Tonne wohnte, waren die ersten Vertreter dieses Denkens. Sie klinkten sich aus Familie, Lohnarbeit und sozialen Konventionen aus, indem sie materiellen Verzicht predigten. Wer auf die Güter der Gemeinschaft verzichten kann, muss sich auch nicht ihren Zwängen unterwerfen. Als unabhängiger Außenseiter muss ich keine Rücksicht nehmen und kann schonungslos Konsumterror, Korruption und ihre übrigen Schattenseiten kritisieren.
Diogenes in der Tonne war eine der Idealfiguren der Hippie-Bewegung. Auch die 68er klinkten sich aus der etablierten Gesellschaft aus und suchten neue Lebensformen. Heute sind die 68er selbst etabliert. Ist Diogenes aus der Tonne in den Bundestag gewandert? Der moderne Zyniker unterscheidet sich von seinem antiken Vorbild in zwei Dingen:
- Er ist kein Außenseiter mehr, sondern gehört dazu.
Harald Schmidt hat mit dieser Denkweise Millionen an Fans und Einkommen gewonnen. - Er ist nicht mehr der überlegene Spötter, der nur über die andere herzieht.
Er kommentiert auch sein eigenes Verhalten mit bösem Gelächter.
Religion und Marxismus glaubten an eine bessere Welt. So schlecht auch die Gegenwart sein mag, in naher Zukunft empfängt uns das Paradies. Der gute Glaube kennzeichnete den guten Menschen. Damals galt Zynismus als böswillige Kritik an der Hoffnung auf eine goldene Zukunft.
Diese Illusion ist verflogen. Wir sind aufgeklärt. Die gegenwärtige Welt ist unsere einzige Welt, an deren Zerstörung wir munter mitarbeiten. Wir vernichten die Artenvielfalt und das Klima. Wir genießen die Früchte eines Wirtschaftssystems, das die einen immer reicher und die meisten immer ärmer macht. Wir schauen uns die Katastrophen im Fernsehen an und futtern dabei Chips und Schokolade.
Der Zynismus ist längst kein böser Spott mehr. Er spricht nur offen aus, was jeder von uns insgeheim weiß. Peter Sloterdijk, der bekannteste Gegenwartsphilosoph Deutschlands, veröffentlichte 1983 seine zweibändige „Kritik der zynischen Vernunft“. Das Werk machte ihn mit einem Schlag berühmt. Darin definierte er den modernen Zynismus als „aufgeklärtes falsches Bewusstsein“.
„Falsches Bewusstsein“ ist ein Ausdruck von Hegel und Marx. Damit ist ein Denken gemeint, das nicht über den eigenen Tellerrand hinausschaut. Die gegebenen Verhältnisse – so ungerecht sie sein mögen – erscheinen als notwendig und unveränderlich. Was ist, ist gut – einfach weil es existiert.
Früher beruhte dieses Denken auf Unkenntnis. Alternativen waren nicht bekannt. Inzwischen haben Aufklärung und Religionskritik uns jedoch die Illusionen genommen.
Utopien wie der Marxismus sind gescheitert. Wir sind informiert. Wir wissen, wie Böses entsteht und wie gerechte Verhältnisse aussehen müssten. Trotzdem halten wir am Ist-Zustand fest. Denn wir haben uns in der Gegenwart behaglich eingerichtet. Egal, wie düster uns die Zukunft erscheinen mag.
Der moderne Zyniker spricht diese Wahrheit schonungslos aus. Er zeigt auf den Schuldenberg des Staates, den Raubbau an der Natur und die wachsende Armut. Zynismus ist längst offizielle Politik geworden. Gier, Ellenbogenmentalität und Egoismus sind keine Sünden mehr, sondern Grundpfeiler unseres Wirtschaftssystems. Wer den Finger auf die Wunde legt, erntet längst nicht mehr empörte Ablehnung, sondern seufzende Zustimmung. Ehrlich sein heißt heute Zyniker sein.
Unser Buchtipp:
Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Edition Suhrkamp, Neuausgabe 2008, € 14,–
veröffentlicht im Februar 2010 © by www.berlinx.de
Hinterlasse einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar schreiben zu können.