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Von poli­tischer Korrektheit und Gut­menschen

Nackte Körper in der Werbung, „tabu­lose“ Dienste in Zeitungs­annon­cen, Kot­proben als Wett­gegen­stand im Samstag­abend­fern­sehen – Tabus und Hem­mungen scheint es nicht mehr zu geben. Wirklich? Schauen Sie mit uns hinter die Ku­lissen der Spaß­gesell­schaft.

Die Aufklärung hat die Religion entzaubert. Die 68er Generation fegte die sexuellen Tabus hinweg. Heute darf jeder „Spaß haben“ als höchsten Lebenssinn einfordern. Hemmungen haben gilt als hinderlich für Karriere und Selbstverwirklichung. Die letzten Schranken zu überwinden, gilt als coole Mutprobe, die im „Dschungelcamp“ Millionen Zuschauer findet.

Wer strebt noch nach Tugenden, fürchtet sich vor Sünden? Doch wo Tabus und Verbote durch die Vordertür hinausgefegt wurden, schleichen sie sich durch die Hintertür wieder ein. Sie brauchen sich nur dem Verdacht auszusetzen, die heiligen Kühe demokratische Denkens zu missachten. Probieren Sie es aus, indem Sie

  • kritisieren, wie Israel die Palästinenser behandelt – schon gelten Sie als Antisemit, Holocaustleugner und Unterstützer des Terrorismus
  • Witze erzählen, in denen Türken, Araber oder Afrikaner (unter der Bezeichnung „Neger“) vorkommen
  • Bemerkungen wie „Frau am Steuer“ in öffentlicher Runde von sich geben.

Die öffentliche Moral ist durchsetzt von neuen Tabus. Zwei Merkmale unterscheiden sie von den Tabus früherer Jahrhunderte, die sich gegen sexuelle Freiheit und Gotteslästerer richteten:

  • Einst hatten Kirche und Gerichte die Tabus überwacht und deren Verletzer bestraft. Über die neuen Tabus wacht die öffentliche Meinung, vor allem die Medien. Wer gegen sie verstößt, verliert seinen guten Ruf, wird zum Außenseiter erklärt und steht am Pranger der selbsternannten Gutmenschen.
  • Nicht Taten, also tatsächliche Verstöße, sind mehr nötig, um ein Tabu zu verletzen. Früher mussten Sie ein Ehebrecher sein, um bestraft zu werden, also nicht nur Ehebruch anderer verzeihlich finden. Heute genügt es schon, eine Meinung zu äußern, die gegen die ungeschriebenen Regeln der „political correctness“ zu verstoßen, um Empörung auf sich zu ziehen.

Die neuen Tabus haben durchaus einen Sinn. Sie sollen Opfer und Minderheiten schützen. Sie bringen auch lange verschwiegene Missstände ans Licht, und zeigen, wo unsere Vorurteile schlummern. Leider kommen bei der raschen Empörung über einen fragwürdigen Wortgebrauch die tatsächlichen Skandale oft gar nicht mehr ins Bewusstsein.

Was ist zum Beispiel dagegen zu sagen, wenn FDP-Chef Westerwelle sagt, Arbeitende müssten mehr verdienen als Nichtarbeitende? Klingt doch ganz vernünftig, oder? Die sofortige Empörung aller politischen Lager breitete einen Mantel des Schweigens über den eigentlichen Skandal. Westerwelle ist nämlich zugleich gegen Mindestlöhne. Er hält Stundenlöhne von drei Euro und weniger durchaus für in Ordnung, sofern „der Markt“ nichts anderes durchsetzt. Wenn schon Arbeitende von ihren Löhnen nicht leben können, wie wenig soll dann ein unverschuldet Arbeitsloser bekommen? Mit ihnen würde Westerwelles geliebter Mittelstand Millionen von Kunden verlieren, die seine Produkte und Dienstleistungen dann nicht mehr kaufen können.

Einst trennten die Tabus Tugendhafte von Frevlern. Heute scheiden sie Gutmenschen von Ignoranten, ewig Gestrigen und Umweltsündern. Ist nach der sexuelle Revolution nun ein Aufstand gegen Gutmenschentum und politische Korrektheit nötig? Damit würde sich das alte Spiel bloßen Austauschens alter Tabus gegen neue wiederholen. Auch im Sex ist herrscht heute keine schrankenlose Freiheit. Missbrauch von Kinder, Gewalt gegen Frauen und AIDS haben den geschlechtlichen Bereich in ein wahres Minenfeld verwandelt. Witze über Frauen gelten als diskriminierend, Witze über Männer als geistreiches Kampfmittel gegen sexuelle Unterdrückung.

Wer seinen philosophischen Streifzug durch dieses verminte Gebiet unternimmt, sollte folgende drei Sicherheitsregeln beachten:

  • Überlegen Sie sich, mit wem Sie was in welcher Weise diskutieren. Wer über gute Manieren verfügt, wird auf Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen.
  • Lassen Sie sich aber kein Denkverbot aufdrücken. Diskutieren Sie sachlich mit aufgeschlossenen Personen. Beten Sie nicht die üblichen Schlagworte nach, sondern durchleuchten Sie die Hintergründe. Wie sind die neuen Tabus entstanden und warum halten sie sich?
  • Tabus sind immer Produkte eines Zeitalters. Welche Güter unseres heutigen Lebens schützen sie? Was würde geschehen, wenn man sie hinwegfegte? Und: Auf welche Tabus möchten Sie in Ihrem eigenen Interesse auf keinen Fall verzichten? Falls Sie sich für tabufrei halten: Welche Meinungen, Redeweisen und Handlungen finden Sie unerträglich?

Unser Lesetipp: Artikel „Politische Korrektheit“ in der Wikipedia.

veröffentlicht im März 2010 © by www.berlinx.de

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