Lange galt Streß nur als Risikofaktor für die Gesundheit. Dabei weiß die Wissenschaft schon lange, daß Streß auch die Kreativität erhöhen kann. EGONet zeigt Ihnen, wie Sie unter Anspannung Ihre schöpferischen Kräfte mobilisieren können.

Freitagnachmittag. Rolf, 34 Jahre, sitzt am Computer und sucht im Internet Firmen, die ein neues Verfahren der Leistungsbewertung Ihrer Mitarbeiter anwenden. Er braucht Beispiele, die er in seiner schriftlichen Abschlußarbeit seiner betriebswirtschaftlichen Weiterbildung zitieren kann. Gerade ist er fündig geworden, da kommt seine Frau herein und sagt: „Ich verstehe nicht, wie du bei dem Krach arbeiten kannst.“

Rolf schaut verwundert auf. Er folgt ihrem Blick zum offenen Fenster und versteht erst jetzt, was sie meint. Von draußen dringt der unangenehme Lärm von Preßlufthämmern und Baumaschinen herein. Direkt unter dem Fenster reißen fünf Männer mit schwerer Technik die Straße auf.

Rolf hatte sich so sehr auf seine Aufgabe konzentriert, daß er bis zu diesem Moment von den Außengeräuschen nichts mitbekam. Erst durch die Unterbrechung wurde er darauf aufmerksam und schloß das Fenster. Ein typisches Beispiel dafür, daß es immer von uns selbst abhängt, ob wir einen Störfaktor als Streßursache wahrnehmen oder nicht. Diese Tatsache macht sich in jüngster Zeit die medizinische Forschung zunutze.

Rekapitulieren wir die bekannten Fakten. Streß ist ursprünglich eine sinnvolle Schutzreaktion vor Gefahren. Wenn unsere Vorfahren in der Savanne sich plötzlich einer Raubkatze gegenüber sahen, mobilisierte der Körper seine Reserven für die Flucht. Das Großhirn meldete dem Zwischenhirn: Lebensgefahr! Dieses erregte daraufhin den Sympatikusnerv, welcher die Botschaft an die Hormondrüsen, insbesondere an die Nebennieren, weiterleitete. Die Nebennieren schütteten die Hormone Adrenalin und Noradrenalin aus. Beide Stoffe beschleunigten den Blutdruck und den Herzschlag. Das Blut floß dadurch schneller und stärker durch die Muskelregionen und versorgte sie mit Zucker, dem Treibstoff des Körpers. Das Gehirn zugleich schaltete alle Funktionen, die nicht der Fortbewegung dienten – Sexualität und Verdauung – auf Sparflamme.

Das Ganze dauerte Bruchteile von Sekunden, dann war unser Vorfahr zum Sprint durch das Dickicht bereit. Der moderne Mensch verfügt immer noch über diese Alarmreaktion. Allerdings ist unser Unterbewußtsein nicht in der Lage zwischen körperlicher und seelischer Bedrohung zu unterscheiden. Wenn wir vom Chef heruntergeputzt wurden – zu Recht oder zu Unrecht – sehen wir unsere Selbstachtung und vielleicht auch unsere Karriere in Gefahr. Prompt löst das Zwischenhirn die Hormonausschüttung aus und die Streßreaktion beginnt – auch ohne Urwaldtiger. Mit dem Unterschied, daß wir nicht mehr aufspringen und die aktivierte Bewegungsenergie durch einen flotten Mittelstreckenlauf weg von der Quelle der Gefahr verbrauchen.

Werden wir öfter geärgert, ohne uns körperlich abzureagieren, werden erhöhter Blutdruck, beschleunigter Herzschlag sowie verminderte Verdauung und Potenz zum Normalfall. Zuviel Streß, lautet die medizinische Diagnose. Richtig wäre es, die aufgestaute Energie durch körperliche Bewegung zu verbrauchen. Jeder, der nach einem größeren Ärger, mal Laufschuhe angezogen und eine Viertelstunde durch den Stadtpark gejoggt ist, kennt die wohltuende Wirkung aus eigener Erfahrung. Man kann beim Laufen mit verfolgen, wie sich nach wenigen Minuten die Anspannung löst, wie man innerlich Abstand gewinnt und die Ursachen des Konflikt mit größerer Gelassenheit betrachtet. Und anstatt das endlose Grübeleien bis tief in die Nacht, wie man dem Chef in richtiger Form hätte ordentlich die Meinung sagen sollen, kann man entspannt einschlafen.

Ärzte werden meist aufgesucht, um die negativen Folgen von Streß, den sogenannten „Dysstreß“, zu behandeln. Meist mit blutdrucksenkenden Mitteln und der Mahnung, sich öfter Entspannung und Spaziergänge zu gönnen. Seltener liegt das Augenmerk auf der positiv aktivierenden Wirkung von Streß, dem „Eustreß“. Unser Eingangsbeispiel schilderte zwei solcher Faktoren. Streß mobilisiert zusätzliche Leistungsreserven und schaltet nicht zur Sache gehörende Wahrnehmungen ab.

Hans Selye, der Vater der Streßforschung, erkannte vor vielen Jahren schon die positive, ja sogar heilsame Form von Streß, die wir nicht als Belastung empfinden. Jeder weiß, daß anstrengende Arbeit auch Spaß machen kann. Es kommt darauf an, daß wir uns den Anforderungen gewachsen fühlen, daß wir an den Aufgaben wachsen und unsere eigene Stärke spüren.

Starke Anspannung führt nicht zwangsläufig zu dauerhaftem Bluthochdruck und Herzinfarkt. Es kommt darauf an, wie das Gehirn die Anforderungen gewertet – als Gefahr oder als positive Herausforderung. Für Mediziner wie Professor Gerald Hüther von der psychiatrischen Klinik Göttingen ist das Gehirn mehr als eine automatische Schaltstelle zwischen äußerer Störung und innerer Hormonausschüttung. Unter Anspannung lösen sich eingefahrene Denkbahnen auf. Das Zentralnervensystem öffnet sich für neue Verschaltungen, kreative Lösungen für schwierige Probleme werden möglich. Streß und Leistungsbereitschaft gehören zusammen.

Ist das Problem gelöst, beruhigt sich das Gehirn wieder. Worauf es ankommt, damit das Hormonsystem nicht entgleist: daß nach einer mehrtägigen oder gar mehrwöchigen Phase der Anspannung eine Zeit der Ruhe folgt. Dauerstreß ist schädlich, aber auch das Ausweichen vor jeder Belastung. Das Paradebeispiel für Letzteres ist der Verwaltungsbeamte, der auf eingefahrenen Denkbahnen von Beförderung über Beförderung bis zur Pensionierung fortschreitet. Auch er kennt Streß, aber nur den negativen: Intrigen zwischen Kollegen, Angst vor unerwarteter Kritik von oben, die Furcht, eine wichtige Vorschrift nicht beachtet zu haben. Von Kreativität keine Spur. Daraus wird Dysstreß, krankmachende Belastung. Kein Wunder, daß gerade in dieser Schicht Herzinfarktpatienten häufig sind.

Wovon es auf körperlich-biologischer Ebene abhängt, wie wir den Streß verarbeiten – anregend oder als Belastung – ist noch nicht genau bekannt. Eine wichtige Rolle scheint das Hormon Dehydroepiandrosteron (abgekürzt DHEA) zu spielen. Es ist der Gegenspieler des Streßhormons Cortisol und stimuliert das Immunsystem. Ältere Patienten mit niedrigem DHEA-Spiegel, denen Mediziner zusätzliches DHEA injizierten, berichteten über mehr Vitalität, besseren Schlaf, Entspanntheit und die Fähigkeit, stressige Situationen besser zu überstehen. Umgekehrt erkanken Menschen mit niedrigem Cortisolspiegel eher an Streßfolgen. Hinweise darauf fanden amerikanische Wissenschaftler, die untersuchten wie Opfer von Verkehrsunfällen diese traumatische Situation im Nachhinein verarbeiteten. je niedriger ihr Cortisolspeigel, desto stärker waren sie gefährdet, an einer sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörung, dem Post Traumatic Stress Disorder (PTSO) zu erkranken.

Was können wir tun, um die Chancen von Streß zu nutzen und uns vor negativen Auswirkungen zu schützen? Streßforscher empfehlen:

Umgeben Sie sich mit netten Menschen, die Sie mögen und meiden Sie Nörgler und Pessimisten.

Belasten Sie sich mehrmals in der Woche körperlich, daß Sie für mindestens sechs Minuten am Stück ins Schwitzen kommen.

Schaffen Sie sich zwischendurch Ruhe-Inseln. Wenn Sie es schaffen, mal eine Stunde nichts weiter zu tun als die Seele baumeln zu lassen, holen Sie den „Zeitverlust“ hinterher durch effektiveres Arbeiten Spielend wieder herein.

Falls Sie Streß schlecht verarbeiten können: Reduzieren Sie alle Mittel mit Aufputsch- oder Suchtpotential: Alkohol, Tabletten, Nikotin …

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