Warum wir Chaos im Kopf nur schwer ertragen
Ordnung ist das halbe Leben, sagten unsere Eltern. Was aber ist die andere Hälfte? Und was passiert, wenn wir auf Ordnung verzichten? Egonet über die geheime Macht der Schubladen in unserem Leben.
Laut Bibel war am Anfang das Tohuwabohu. Doch dann kam Gott und fing an, Ordnung in das Chaos zu bringen. Er schied das Licht vom Dunkel, das Land vom Wasser, den Tag von der Nacht.
Seit Urzeiten begleitet der Zwang zur Ordnung das menschliche Dasein. Jedes Kind zerrt lustvoll sein Spielzeug aus Regalen und Kisten – und muss lernen, die Dinge später wieder dorthin zurückzubefördern. In der Schule geht das Ordnen weiter. Das Wissen wird in Fächer eingeteilt – Deutsch, Rechnen, Zeichnen, Musik. Im Unterricht geht das Einteilen weiter. Zahlen teilen sich auf in natürliche, rationale und reelle. Wörter in Substantive, Verben, Adjektive. Selbst Lebewesen dürfen nicht spontan von sich hin leben, sondern müssen sich eine Einteilung in Arten, Gattungen, Klassen und Stämme gefallen lassen.
Wie „natürlich“ sind unsere Ordnungen? Spiegeln unsere Einteilungen wider, was Gott oder die Evolution geschaffen haben? Oder besteht die Natur nur aus ungeordneten Einzelwesen – und die Ordnungen sind Erfindungen menschlicher Bequemlichkeit?
Diese Frage ist ein Dauerbrenner der Philosophie. Im Mittelalter beherrschte der „Universalienstreit“ die Diskussion der Theologen. Sind die allgemeinen Begriffe wie „Tier“ etwas Reales oder nur ein Name, den wir Menschen erfunden haben? Gibt es das „Tier“ oder nur einzelne Tiere – jedes ein unverwechselbares Individuum? Wer glaubte, dass Allgemeines real existiert, nannte sich „Realist“. Wer glaubte, dass nur Namen und Einzelnes existieren, nannte sich „Nominalist“.
Seit der Renaissance erlebte die Naturforschung einen großen Aufschwung. Sie basierte auf der Überzeugung, die Ordnung zu entdecken, die in der Natur selbst vorhanden ist. Doch Ende des 18. Jahrhunderts leitete Immanuel Kant eine Wende ein. Erst der erkennende Mensch bringe mit seinem Kategorisieren Systematik in die Natur.
Die unberührte Natur ist etwas Kontinuierliches. In dem Wort „Einteilung“ steckt das Wort „Teil“. Erst wir brechen Teile aus ihr heraus und ordnen sie in die Fächer unseres Denkens. Je mehr wir wissen, desto zahlreicher werden unsere Schubladen. Früher nutzten wir Karteikästen, um den Überblick zu behalten. Heute nutzen wir Ordner und Unterordner auf Computerfestplatten.
Michel Foucault erregte Mitte der 1960-er Jahre Aufsehen mit seiner These, jede Kultur habe ihre eigenen Ordnungssysteme. Eine „natürliche“, universelle Ordnung gebe es nicht. Unsere westliche Wissenschaft ist tatsächlich nicht die einzige Form, die Natur zu systematisieren. Aber alle Kulturen habe eins gemeinsam: Sie versuchen, die unübersichtliche Welt beherrschbar zu machen.
Die heutige Philosophie nimmt einen mittleren Standpunkt ein. Ordnungssysteme sind zwar eine menschliche Erfindung, aber wir passen sie den Informationen an, die wir von der Natur erhalten. Wir teilen Lebewesen längst nicht mehr nur in Tiere und Pflanzen ein. Pilze, Bakterien, Archaeen (Urbakterien) und Viren sind als eigene Gruppen hinzu gekommen.
Das Allgemeine ist real, aber es existiert nur in den Einzelwesen. Das beste Beispiel ist die Erbinformation, die DNA. Sie enthält das ererbte Artgedächtnis in den Zellen der Individuen.
Seit es möglich ist, Erbsubstanz im Detail zu vergleichen, geht der Anteil willkürlicher menschlicher Annahmen immer weiter zurück. Das Ideal einer „natürlichen“ Systematik erscheint in Reichweite.
Im zweiten Teil wird es alltagspraktisch: Sie erfahren, warum wir zu Klischees neigen und welche Fallen uns das Schubladendenken stellt.
veröffentlicht im März 2013 © by www.berlinx.de
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