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Warum wir Klischees lieben

Frauen kön­nen schlecht ein­par­ken, Be­amte sind faul, Dicke un­diszi­pli­niert – es ist so schön be­quem, Vor­ur­tei­le zu pfle­gen. Im er­sten Teil bändig­ten wir das Chaos. Hier frag­ten wir: Warum wer­den selbst klu­ge Men­schen Opfer ein­fa­cher Kli­schees?

Manch einer behauptet von sich: Ich habe keine Vorurteile! Zur gleichen Zeit erzählt er Blondinenwitze, kauft nur Produkte bekannter Marken und wechselt die Straßenseite, wenn ihm eine Gruppe türkischer Jugendlicher entgegenkommt.

Wir alle denken in Schubladen. Schon die Struktur unserer Sprache zwingt uns dazu. Alle unsere Wörter sind Schubladen. Wer „Baum“ sagt, macht zwischen Krüppel­kiefern und majestätische Eichen keinen Unterschied. Wer „Eiche“ sagt, packt zarte Junggewächse und tausend­jährige Riesen unter einen Hut. Wir sind darauf ge-„eicht“, individuelle Unterschiede zu vergessen, wenn wir über Menschen und Dinge reden. Und da wir in sprachlichen Begriffen denken, unterliegt unsere Intelligenz der gleichen Schwäche. Wir konzentrieren uns auf das große Ganze und blenden die Verschie­denheiten aus.

Wie viele Schubladen wir nutzen, macht den Unterschied zwischen klug und dumm. Wer nur eine oder wenige Schubladen in seinem Kopf öffnet, ist von Vorurteilen beherrscht. Wer dagegen viele Schubladen gleichzeitig öffnet, kann dem Klischee entgehen. Er sieht in dem Gemüse­händler an der Ecke nicht nur den Türken, sondern auch den Familien­vater, den Klein­unternehmer, den Fußballfan, den Genießer, den ordnungs­liebenden Bürger und vieles mehr.

Leider gelingt uns nur selten der Blick in viele Schubladen zugleich. Die tägliche Informations­flut zwingt zur Selbstbeschränkung. Beruf, Nachbarn, Familie, Behörden, Ärzte – wie soll man auf all diesen Feldern den „ordentlichen“ Überblick behalten?

Die Überforderung unserer Ordnungs­fähigkeit hat drei Arten von Störungen hervorgebracht:

  • Burn-out: Wachsenden Anstrengungen, die komplexen sozialen Aufgaben zu beherrschen, steht sinkende Anerkennung gegenüber. Jede weitere Anstrengung erscheint sinnlos. Erschöpfung und Sinnleere nehmen überhand.
  • Messies: Die kapitalistische Wegwerfgesellschaft bringt Menschen hervor, die im Chaos der Dinge untergehen. Messies können sich weder von Dingen trennen noch sie ordnen. Wohnung und Festplatten verwandeln sich in Müllberge.
  • Zwänge: Ordnen kann zur Manie werden. Jedes Ding muss rechtwinklig ausgerichtet werden. Jedes kleinste Zeichen von Unordnung ruft Panik hervor. Kann ein Ding zwei verschiedenen Schubfächern zugeordnet werden, räumt der Zwanghafte es ständig vom einen Ort zum anderen – bis er schließlich ein extra Schubfach einrichtet.

Wie philosophische Gelassenheit im Chaos der Überfülle zu erreichen ist, wusste schon Sokrates. Beim Wandeln über den Athener Markt sagte er: Hier sehe ich, was ich alles nicht brauche.

Wer Weniges aus der Fülle auswählt, kann dies ausführlich und in Ruhe genießen. Die philosophische Regel lautet daher: Auf zwei, drei Gebieten können Sie sich umfassend informieren und mit Detailwissen und Erfahrung die bequemen Schubladen vermeiden. Auf den übrigen Gebieten sagen Sie wie Sokrates: Ich weiß, dass ich nicht genug weiß. Ich behalte immer im Hinterkopf, dass mein Urteil unsicher ist.

Unser Buchtipp:
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Suhrkamp, Neuauflage 2009, € 16,–

Lesen Sie bei uns auch:
Ordnung halten So bändigen Sie das alltägliche Chaos

veröffentlicht im April 2013 © by www.berlinx.de

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