Ein Trend mit Zukunft?
Lernen, Wiederholen, konzentriert nachdenken. Das waren bisher die einzigen Wege zu hoher geistiger Leistung. Das könnte sich bald ändern. Sie werfen eine Pille ein, und schon purzeln die Geistesblitze ohne die geringste Anstrengung nur so aus Ihnen heraus.
Julia hat morgen eine Prüfung. In einem Fach, das ihr große Schwierigkeiten bereitet. Selbst Büffeln bis zum Umfallen bietet ihr keine Erfolgsgarantie. Sie könnte einen Spickzettel mitnehmen und hoffen, dass sie nicht erwischt wird. Doch viel schöner wäre es, sie hätte ein passendes Medikament, das ihr Gehirn in den Turbo-Modus schaltet. Ein Mittelchen, das ihr Konzentration und kluge Einfälle beschert.
Die Idee ist nicht neu. Alkohol und Nikotin gelten schon seit Jahrhunderten als Stimmungsaufheller. Balzac schrieb in nur zwanzig Jahren (zwischen 1830 und 1850) sein vielbändiges Romanwerk, indem er sich mit bis zu 50 Tassen Kaffee pro Tag nächtelang wach hielt. Zur gleichen Zeit fingen Künstler an, mit Drogen zu experimentieren. Der Schriftsteller Thomas de Quincey veröffentlichte 1821 seine Erfahrungen unter dem Titel „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“. Wenig später kam das Kokain in Mode. Sherlock Holmes dopte damit sein detektivisches Superhirn. Im ersten Weltkrieg hielten sich Soldaten mit Amphetaminen wach.
Julia brauchte sich nur bei Studenten der älteren Semester erkundigen. Mindestens fünf Prozent besitzen einschlägige Erfahrungen und haben schon mal mit leistungssteigernden Mitteln nachgeholfen. Laut einer neuen Studie der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) nehmen fast eine Million regelmäßig Pillen ein, die ihr Gehirn dopen. Tendenz steigernd.
Amphetamine spielen dabei noch immer eine wichtige Rolle. Es handelt sich um eine Stoffgruppe, die einen Energieschub verschafft und euphorische Gefühle auslöst. Als Partydroge kennen wir sie unter den Namen Speed und Ecstasy. Als Medikament ist vor allem das Ritalin bekannt, das gegen ADHS eingesetzt wird – also bei Aufmerksamkeitsdefiziten und Hyperaktivität (Zappelphilipp-Syndrom).
Die Pharmaküche hat weitere Substanzen erfunden, die nicht nur auf Kranke eine Faszination ausüben:
Modafinil: Ursprünglich als Stimulanz bei chronischer Tagesmüdigkeit und Erschöpfung eingesetzt, helfen sich damit zunehmend Gesunde über ihre Tagestiefs hinweg.
Fluoxetin: Das moderne Antidepressivum gehört zur Klassen der Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer. Es greift in die Hirnchemie ein. In den USA wurde es unter dem Namen Prozac® als Glückspille für jedermann bekannt. Bei uns heißt das Präparat Fluctin® oder Fluxet®.
Metoprolol: Als Mittel gegen Bluthochdruck und Herzkrankheiten gedacht, lassen es sich manche Stressgeplagte auch zur Beruhigung verschreiben. Sie hindern Körper und Geist, auf „Turbo“ umzuschalten.
Benzodiazepine. Das sind die klassischen Tranquilizer. Zu ihnen gehören Wirkstoffe wie Diazepam (Faustan®) oder Oxazepam. Sie werden bei Prüfungen und Co. als „Leck-mich-Pille“ eingesetzt. Sie erlauben es dem Stressgeplagten, sich innerlich von der angstmachenden Situation zu distanzieren. Insbesondere bei Oxazepam besteht hohe Suchtgefahr.
Piracetam: In der Therapie bei Altersdemenz eingesetzt, soll es Gedächtnis-, Konzentrations- und Denkstörungen sowie Antriebsschwächen überwinden helfen. Der Gedanke liegt nahe, auch bei Gesunden dem Gehirn damit einen Leistungsschub zu verpassen.
An die Mittel heranzukommen, ist nicht ganz einfach. Doch allein Fluoxetin ist seit Anfang der 90-er Jahre über 50 Millionen Mal verschrieben worden. Das zeigt, erfinderische Geister lassen sich etwas einfallen. Die Pharmaunternehmen dürften über das Interesse der Gesunden nicht gerade unglücklich sein. Das Hirndoping wird kommen, und kein Gesetzgeber kann den Zug aufhalten. Fragen wir lieber nüchtern nach Chancen und Risiken.
Was Kranken nützt, wirkt nicht unbedingt bei Gesunden. Der Jubel um die Glückspille hat sich wieder gelegt. Viele Depressive profitieren zwar von dem Mittel. Nicht aber Gesunde. Wer einen normalen Serotonin-Stoffwechsel hat, erlebt keine weitere Steigerung. Der Wirkungsgrad bei Gesunden entspricht nur dem Placebo-Effekt. Das heißt, allein die Erwartung, dass sich mit der Pille die Stimmung verbessert, sorgt in vielen Fällen tatsächlich für bessere Laune. Sämtliche Mittel gegen Depression müssen zudem zwei Wochen lang eingenommen werden, bevor sie anfangen, Wirkung zu zeigen. Für das schnelle Sofortdoping sind sie also nicht geeignet.
Langzeitfolgen unklar. Die Mittel gegen Demenz bekämpfen nur die Symptome. Sie halten den geistigen Abbau nicht auf, sondern verbessern nur eine Zeitlang die Leistung des Gedächtnisses. Die neuen Substanzen sind noch nicht lange genug auf dem Markt, um die langfristigen Wirkung einschätzen zu können. Doch mit zwei Effekten sollten wir auf jeden Fall rechnen: Gewöhnung und Suchtgefahr. Das Gehirn arbeitet nicht ungestört über Jahre im Turbo-Modus. Es gewöhnt sich an die zusätzliche Stimulanz und fährt seine Leistung auf das ursprüngliche Maß zurück. Damit schützt es sich vor längerfristiger Überlastung. Setzt nun der enttäuschte Nutzer das Medikament ab, sinkt seine Leistung unter das Ausgangsniveau. Dies erlebt er als Entzug. Eine Sucht entsteht. Der Nutzer braucht immer mehr von der Substanz, um sein geistiges Normalniveau zu halten.
Nebenwirkungen beachten. Nur was gar nicht wirkt, erzeugt auch keine unerwünschten Begleitsymptome. Kopfschmerzen, erhöhter Blutdruck, Übelkeit und Schlafstörungen sind bekannte Nebenwirkungen von hochwirksamen Psychopharmaka. Was nützt es Ihnen, wenn sie in der Prüfung weniger aufgeregt sind, aber zugleich auch weniger leistungsfähig sind? Wann überwiegt der Schaden den möglichen Nutzen? Das ist für die Verabreichung an Gesunde noch nicht erforscht.
Der vernünftige Nutzer wird solche Mittel nur in einer besonderen Stress-Situation einsetzen. Wer sie ständig nimmt, macht sich zum kostenlosen Versuchskaninchen. Die Lage könnte sich verbessern, wenn eines Tages mehr über die Dauerwirkung bekannt sein wird. Dann wird man das Risiko genau einschätzen können. Aber das ist noch Zukunftsmusik.
Allerdings fällt der Vorteil von Hirndoping weg, wenn eines Tages jedermann stimulierende Medikamente einnimmt. Dann sind die verbleibenden Leistungsunterschiede wieder – wie heute – auf individuelle Unterschiede zurückzuführen. Für Doper besteht nur ein Vorteil, solange die übrigen in der Mehrheit Nicht-Doper sind.
Aber vielleicht wird es kommen wie mit den Schönheitsoperationen. Wer sein Aussehen verbessern will, bezahlt dafür viel Geld und nimmt einiges an Risiken auf sich. Die meisten gehen aber weiterhin ohne solche OPs durchs Leben. Sie akzeptieren sich so, wie die Natur sie geschaffen hat.
So könnte es auch mit dem Hirndoping kommen. Dann wird sich die Welt in eine Leistungselite teilen, die mit Hirndoping ihr Durchhaltevermögen optimiert, und eine breite Mehrheit, die auch ohne mentale Aufrüstung ihren Alltag besteht.
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veröffentlicht im Mai 2009 © by www.berlinx.de
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