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Wie viel Vorsorge ist sinnvoll?

Schweine­grippe-Alarm – sollten wir also Mexiko, die USA und den Frank­furter Flug­hafen meiden? Oder wenig­stens mit Atem­schutz herum­laufen? Und dann ist da noch die Finanz­krise. Sicher­heits­halber dies Jahr auf den Urlaub ver­zichten und das Geld auf einem Tages­geld­konto sparen?
Egonet über den sinn­vollen Umgang mit Risiken.

Wer morgens aus dem Haus geht, begibt sich in Gefahr. Ich kann schon beim Überqueren der Straße totgefahren werden. Zu Hause bleiben, ist auch nicht ganz ohne. Zum Beispiel, wenn man in Köln lebt, und in der Nähe gerade eine U-Bahn-Linie gebaut wird. Das Haus kann einstürzen und die Bewohner unter den Trümmern begraben.

Ein Leben ohne Risiko gibt es nicht. Dennoch würde wohl niemand ernsthaft empfehlen, durch Afghanistan oder Somalia zu trampen, als Untrainierter den Mount Everest zu besteigen oder sein gesamtes Erspartes in hochspekulative Finanzprodukte zu investieren. Es gibt offenbar einen Unterschied zwischen vernünftigen und unvernünftigen Risiken. Doch woran erkennen Sie, ob ein Risiko akzeptabel oder unbedingt zu vermeiden ist?

Die Standardformel, um ein Risiko zu bestimmen, lautet: Schwere des Ereignisses multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit seines Eintretens.
Das bedeutet:

  1. Tritt eine Gefahr oft auf, wird man das Risiko meiden, selbst wenn der Schaden gering ist. Tritt dagegen das Ereignis bei geringem Schaden selten ein, ist das Risiko klein.
  2. Ist die Gefahr selten, wird man sie dann meiden, wenn der mögliche Schaden sehr hoch ist. Letzteres gilt zum Beispiel für die Explosion in einem Kernkraftwerk. Eine Kernschmelze wie in Tschernobyl gab es erst einmal. Dennoch waren die Folgen so verheerend, dass eine Wiederholung unbedingt vermieden werden muss.

Wie hoch Schaden und Häufigkeit sind, weiß man leider oft erst hinterher. Daher gibt es große Institute, die sich mit nichts anderem beschäftigen, als mögliche Risiken vorauszuberechnen. Viele Statistiken der Vergangenheit gelten auch für die Zukunft. Das macht die Voraussicht leicht. Dies betrifft zum Beispiel das Risiko von Verkehrsunfällen, Flugzeugabstürzen, aber auch alltägliche Gesundheitsgefahren.

In unserer Alltagswahrnehmung sind wir jedoch oft nicht realistisch genug. Wir neigen dazu, seltene und spektakuläre Ereignisse zu überschätzen. Häufige Ereignisse, auf die wir Einfluss haben, unterschätzen wir. Statistisch müssten wir zum Beispiel mehrere hundert Jahre jede Woche ein Flugzeug benutzen, um einmal abzustürzen. Über 99 Prozent der Vielflieger, die über Jahre täglich fliegen, erreichen unbeschadet das Rentenalter.

Das Risiko, im Taxi zum Flughafen zu verunglücken, ist höher. Am Terroranschlag auf das World Trade Center starben über dreitausend Menschen. Doch weitaus mehr Todesopfer forderte die nachfolgende Verhaltensänderung der Amerikaner. Viele mieden in den folgenden Monaten die Flugzeuge und legten auch längere Strecken im Auto zurück. Das erhöhte die Zahl der Verkehrstoten – und zwar um mehr als dreitausend Todesopfer. So lautet das Fazit des Risikoforschers Gerd Gigerenzer, der die Statistiken auswertete.

Noch gefährlicher sind Gesundheitsrisiken. An den Folgen von Übergewicht und ungesunder Ernährung sterben bei uns jedes Jahr über hunderttausend Menschen. Jeder dritte Todesfall ist durch Krebs verursacht, aber ein Drittel dieser Erkrankungen wäre durch eine gesündere Lebensweise zu vermeiden. Doch wer nimmt diese Warnungen schon ernst? Gerade in Ländern, in denen viel Alkohol getrunken wird, wussten laut einer jüngst veröffentlichten internationalen Studie 42 Prozent der Befragten nicht, dass sie damit ihr Krebsrisiko erhöhen.

Hier wirkt ein psychologischer Abwehr­mechanismus. Man nimmt das eigene Handeln als risikomindernd wahr: „Ich bin doch kein Säufer! Meine drei, vier Bier am Tag – mein Großvater trank das Doppelte und ist immerhin 80 geworden.“ Oder wenn es um die gesunde Ernährung geht: „Es stimmt, ich müsste mehr Gemüse essen. Aber mein Job zwingt mich, jeden Tag mehrere Kilometer zu Fuß durch die Flure unserer Firma zurückzulegen. Da brauche ich die zusätzliche Kalorien aus Fleisch und Kuchen.“

Freilich handelt es sich dabei um langfristige Risiken. Die Folgen zeigen sich erst nach Jahren. Und es ist eine Werteabwägung. Man kann durchaus sagen: „Ich rauche gern und nehme dafür die Gesundheitsgefahren in Kauf.“ Das Rauchverbot in Restaurants wird deshalb auch nicht mit dem persönlichen Risiko des Rauchers begründet. Sondern mit der Belästigung für Nichtraucher. Seltsamerweise denkt aber bislang niemand daran, deswegen Alkohol zu verbieten. Obwohl noch nie ein Raucher jemanden im Nikotinrausch totgefahren hat. Stellen aggressive oder torkelnde Betrunkene keine Belästigung dar?

Es hat durchaus seinen Sinn, einzelnen Risikoereignissen größere Aufmerksamkeit zuzuwenden als alltäglichen Dauerrisiken. Denn da müssen Sie rasch eine eindeutige Entscheidung treffen, über die Sie nicht bis nächstes Jahr nachdenken können. Soll ich das Flugzeug nehmen oder lieber die Bahn? Soll ich die Mexikoreise antreten oder lieber umbuchen? Soll ich meine Aktienanlagen mit Verlust verkaufen? Oder behalten und auf den nächsten Aufschwung warten?

Wie handeln Sie klug, wenn Sie die Risikohöhe und –wahrscheinlichkeit nicht genau kennen? Teilen Sie das Problem in vier Varianten auf. Überlegen Sie, was jede für Sie für Auswirkungen hat:

  1. Sie sorgen nicht vor, die Gefahr tritt ein. Könnten Sie mit dem Schaden leben?
  2. Sie sorgen vor, die Gefahr tritt ein. Rechtfertigt der vermiedene Schaden den Aufwand Ihrer Vorsorge?
  3. Sie sorgen vor, die Gefahr tritt nicht ein. Überlegen Sie, ob die Vorsorge mehr war als nur vergeblicher Aufwand. Statt nach Mexiko zu fliegen, fuhren Sie in die Bretagne – war der Ersatzurlaub schön? Sie gewöhnten sich das Rauchen ab – lohnt sich das rauchfreie Leben für Sie, auch wenn Sie nie Lungenkrebs bekommen hätten?
  4. Sie sorgen nicht vor, die Gefahr tritt nicht ein. In diesem Fall haben Sie nichts gewonnen und nichts verloren.

Unser Lesetip:

Gerd Gigerenzer: Das Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken.
Berlin Verlag 2002. 406 S. EUR 22,–

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veröffentlicht im Juni 2009 © by www.berlinx.de

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