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Wann Menschen einander unterstützen

Wohl jeder bezeichnet sich selbst als hilfs­bereit. Aber nicht gegen­über jedermann und zu jeder Zeit. Wann Sie auf Hilfe rechnen können und warum, erfahren Sie bei uns.

Studenten eilen zu einem Unigebäude und sehen einen Mann, der hilfsbedürftig in einem Hauseingang liegt. Neunzig Prozent eilen vorbei. Obwohl sie gerade einen Vortrag über den barm­herzigen Samariter aus der Bibel vorbereitet haben und in die Uni eilen, um dort über Hilfs­bereitschaft zu reden. Grund für die fehlende Anteil­nahme sind weder Bosheit noch Gleich­gültigkeit, sondern schlicht Zeitdruck. Blieb den Studenten noch viel Zeit, halfen mehr als sechzig Prozent.

Das Ganze war Teil eines Experiments aus dem Jahre 1970. Durchgeführt hatten es die amerikanischen Psychologen John Darley und Daniel Bateson. Der Anlass war ein schrecklicher Vorfall in dem New Yorker Stadtteil Queens. Eine Frau war 1964 vor ihrem Wohnhaus überfallen und zu Tode gequält worden. Obwohl sich die Tat über mehrere Stunden hinzog, half niemand. Die meisten Anwohner glaubten an einen Ehestreit im Nebenhaus.

Die Tat erregte Mitte der 1960er Jahre großes Aufsehen. Der Autor Ryan David Jahn schrieb darüber seinen Roman Ein Akt der Gewalt. Psychologen starteten einen Serie von Studien. Ist der Mensch von Natur aus grausam? Oder war das ein typisches Symptom des amerikanischen Raubtier­kapitalismus?

In einem ersten Experiment fand John Darley mit einem anderen Kollegen (Bibb Latané) einen Hinweis auf die Ursache. Er ließ Personen einen Frage­bogen ausfüllen und währenddessen Rauch – wie bei einem Feuer – in den Raum ziehen. Saß nur einer in dem Raum, eilte er sofort nach draußen, um zu warnen. Waren jedoch viele anwesend, handelte niemand. Jeder glaubte, wenn tatsäch­lich Gefahr bestünde, würde einer von den anderen aufspringen und handeln.

Seitdem heißt das Phänomen „Verantwortungs­diffusion“. Ist einer allein mit einem Notfall konfrontiert, fühlt er sich voll verant­wortlich. Sind mehrere Menschen da, teilt sich die Verantwortung durch ihre Anzahl. Ergebnis: Alle warten ab.

Sollten Sie gerade am Ertrinken sein, können Sie nur hoffen, dass am Ufer nur ein oder zwei Schwimmer stehen und Sie sehen. Dutzende Zuschauer könnten Sie ertrinken lassen, ohne auf die Idee zu kommen, die Rettungs­schwimmer zu informieren.

Ob Überfalle in der U-Bahn oder brennende Häuser – es ist die Anony­mität großer Menschen­massen, die unsere Hilfs­bereitschaft ausbremst. Nur wenn wir als Einzige eingreifen könnten, fühlen wir uns auch angesprochen. Sonst sagen wir uns: Es sind ja noch andere da. Hinzu kommt die Angst, uns zu blamieren. Wenn niemand handelt, könnte es sich um falschen Alarm handeln. Vielleicht eine Art „versteckte Kamera“, und ich bin der Einzige, der den Scherz nicht durchschaut.

Wenn Sie auf Nummer Sicher gehen wollen, fragen Sie nach. Sagen Sie: „Brauchen Sie Hilfe?“ wenn der anscheinend Gefähr­dete ansprechbar ist. Sind mehrere Beobachter da, fragen Sie diese: „Sollten wir nicht was unter­nehmen?“

Wenn Sie selbst in Not sind, erwarten Sie nicht, dass jemand von sich aus hilft. Sprechen Sie jemanden konkret an: „Bitte helfen Sie mir.“

Wer von diesen Experimenten erfährt, handelt danach im Schnitt zweimal so hilfsbereit wie die übrigen. Falls Sie also bei uns zum ersten Mal davon gelesen haben – Glückwunsch zur soeben verdoppelten Hilfs­bereitschaft!

Lesen Sie bei uns auch:
Wer anderen hilft, hilft sich selbst Für Mitmenschen da sein stärkt das Ego

veröffentlicht im Oktober 2013 © by www.berlinx.de

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