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Die Tyrannei der Selbst-Vorwürfe

„Hätte ich doch nur …! Wer hat nicht schon sein Gehirn zermartert, warum die Liebe davon gelaufen oder der Traumjob an den unfähigen Konkurrenten gegangen ist. Manche Selbstquäler wälzen jahrelang das Für und Wider in ihrem Kopf hin und her, ohne je zu einem Ergebnis zu gelangen.

Monatelang die eigene Vergangenheit analysieren, um seine seelischen Probleme zu lösen – diese Methode hat Sigmund Freud zum Kernstück seiner Psychoanalyse erhoben. Das war zweifellos ein Fortschritt in einer Epoche, als die Gesellschaft alles Anrüchige unter den Teppich kehrte. Doch 30 Jahre nach der sexuellen Revolution melden sich Zweifel. Heute kann man über (fast) alles offen reden. Seelisch gesünder sind wir aber nicht geworden.

Erste Zweifel förderte die Notfallforschung zutage. Personen, die eine Katastrophe erlebten, haben Anspruch auf psychologische Betreuung. Doch viele wollen gar nicht über das Erlebte sprechen, um es zu verarbeiten. Studien ergaben: Die „Verdränger“ leiden nach Monaten keineswegs häufiger unter seelischen Spätfolgen als Opfer, die sich das Entsetzen von der Seele redeten. Eher im Gegenteil. Unangenehme Erinnerungen abwehren und zur Tagesordnung übergehen – das scheint uns oft besser zu bekommen, als immer wieder in den Schmerz hineinzutauchen.

Grübeln verleitet zur Passivität: „Ich muss erst nachdenken, bevor ich etwas unternehme.“ Zwar ist es sinnvoll, über einen Ausweg aus seinen Schwierigkeiten nachzudenken. Doch Grübler richten ihre Gedanken nicht auf künftige Lösungen, sondern vergangene Fehler. Dabei hadern sie gern mit ihrem Schicksal – werfen sich also Dinge vor, die gar nicht in ihrer Macht standen: Warum habe ausgerechnet ich Krebs bekommen? Warum musste ich zu dieser Stunde an dem Unglücksort weilen? Weshalb bin ich ausgerechnet diesem Blender begegnet und nicht einem zuverlässigen Kerl?

Selbst wenn Sie eine Mitschuld bei sich entdecken – die Vergangenheit ist nicht mehr zu ändern. Hier hilft nur eins: Die quälenden Gedanken wegzappen. Lassen Sie ein rotes Stoppschild vor Ihrem inneren Auge aufleuchten. Beschäftigen Sie Ihre Gedanken mit etwas anderem. Schalten Sie auf ein positives Denkprogramm um:

Zukunftsblick. Planen Sie Lösungen für die nächsten Tage. Konzentrieren Sie sich auf Naheliegendes. Was kann ich sofort unternehmen, um die Lage zum Besseren zu wenden? Geben Sie sich Tagträumen hin, aber noch wichtiger: Planen Sie konkrete Aktivitäten.

Risikoszenario. Wenn alles schief geht, wenn der schlimmstmögliche Fall eintritt – was werden Sie dann tun? Welche Auswege bleiben Ihnen in so einer Lage? Nicht in der Katastrophe schwelgen, sondern: Planen Sie Lösungen für den Ernstfall. In Ihrer Wirklichkeit kann es dann nur noch besser ausgehen.

Ablenken. Schauen Sie sich einen lustigen Film an, fahren Sie ein paar Tage weg, unternehmen Sie etwas mit Freunden. Werden Sie aktiv, gönnen Sie sich etwas Schönes. Bleiben Sie möglichst nicht allein. Treffen Sie sich mit allen Leuten, die Sie lange vernachlässigt haben. Sie verfügen noch über ein Leben außerhalb Ihres Problems. Genießen Sie Ihr sonstiges Dasein ausführlicher als bisher.

Neue Kompetenzen aneignen. Was können Sie tun, um die nächste Krise mit mehr Standhaftigkeit zu bewältigen? Erwerben Sie Fähigkeiten, die Ihr Ich stärken. Suchen Sie neue Kontakte, besuchen Sie einen Selbstverteidigungskurs, melden Sie sich in einem Fitnessstudio an. Was wollten Sie immer schon mal können? Welche Fähigkeiten würden Sie stolz auf sich selbst machen? Kurz, stecken Sie sich langfristige Ziele, die Ihnen gut tun.

Veröffentlicht im März 2005 © by www.berlinx.de

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