Die vergessenen Sinne
Wir sprechen gewöhnlich von unseren „fünf Sinnen“: Auge, Ohr, Geruch, Geschmack und Tasten. Doch wer nur diese fünf besäße, wäre schwer krank. In diesem Beitrag wollen wir deshalb die übrigen, oft vergessenen Sinne vorstellen.
Gleichgewichtssinn: Wie können wir im Finstern oder tauchend im Wasser wissen, wo oben und unten ist? Dass wir im Raum die Orientierung nicht verlieren, dafür sorgt ein kleiner Apparat im Innern unseres Ohres. Er besteht aus zwei Komponenten:
Das eine ist ein kleines Bläschen, an dessen Boden sich ein Polster mit Sinneszellen befindet. Kalkablagerungen im Innern drücken mit ihrer Schwere nach unten. Ihre Lage informiert die Sinneszellen über die Lage im Raum. Etwas ähnliches besitzen auch einfache Tiere.
Darüber befindet sich drei runde Bögen, die jeweils senkrecht zueinander stehen, so dass sie die drei Dimensionen des Raumes abbilden. An ihrem Ende befindet sich eine Erweiterung, ähnlich einer Ampulle. Die darin befindliche Gallertmasse folgt jeder Bewegung. Damit fühlen wir jede Drehung im Raum, egal ob wir gedreht werden (wie in der Achterbahn) oder uns selbst drehen. Bewegen wir uns waagerecht, reagiert nur der waagerechte Bogengang, bei anderen Bewegungen der senkrechte oder der nach hinten ragende.
Meldet das Auge eine Bewegung, obwohl die Bogengänge unbewegt bleiben – zum Beispiel das Auf und Ab eines Schiffes, das wir in einem Rundum-Kino sehen, erzeugt das Gehirn ein Schwindelgefühl. Es kann die widersprüchlichen Informationen zu keinem schlüssigen Bild vereinen.
Temperatursinn: Im vorigen Beitrag luden wir Sie ein, auf einem vier Quadratzentimeter Hautfeld Ihres Unterarmes mit einer Borste Ihren Tastsinn zu erproben. Wenn Sie statt der Borste jeden Millimeter mal mit einer erwärmten und mal mit einer eisgekühlten Stricknadel abtasten, werden Sie eine seltsame Entdeckung machen. Die Druckpunkte des Tastsinns sind unempfindlich für die Temperaturunterschiede. Die Wärme- und Kältereize registrieren Sie vielmehr zwischen den Druckpunkten des Tastsinns. Und zwar an unterschiedlichen Stellen! Auf der 4 cm2 großen Fläche finden Sie etwa 20 Kältepunkte, aber nur 2 Wärmepunkte. Wenn Sie sie getrennt mit roten und grünen Filzstiftpunkten markieren, stellen Sie fest, dass auch ihre Position stabil bleibt, wenn Sie den Versuch eine Weile später wiederholen. Wir besitzen über den Körper verteilt unterschiedliche Sensoren für Wärme- und Kälteempfindungen.
Schmerzsinn: Die Experten streiten, ob der Schmerz wie ein Sinnesorgan zu betrachten ist. Handelt es sich um mehr als eine bloße Verletzung von Nervenzellen? Wenn zum Beispiel Geschmacksknospen auf der Zunge übermäßig gereizt werden, melden sie nicht mehr Süße oder Bitterstoffe, sondern Schärfe. Doch unser Test auf dem Unterarm fördert auch spezielle Schmerzsensoren zutage. Wenn Sie mit einer feinen, spitzen Nadel jede Stelle millimetergenau abtasten, werden Sie auf vier Quadratzentimetern rund 700 Schmerzpunkte finden.
So wie es blind oder taub geborene Kinder gibt, kommen in seltenen Fällen auch Kinder auf die Welt, denen die Fähigkeit zum Schmerzempfinden fehlt. Manch kopfschmerzgeplagter Zeitgenosse mag sie beneiden, doch in Wirklichkeit benötigen diese Kinder ständige Überwachung. Sie merken nicht, wenn sie eine heiße Herdplatte berühren oder sich das Knie aufschlagen. Sie entwickeln keine Vorsicht vor Gefahren, da sie nie gelernt haben, dass es weh tut, wenn man nicht aufpasst.
Als einen weiteren Sinn könnte man die inneren Signale des Körpers bezeichnen. Wenn etwa der Magen grummelt, das Herz bis zum Halse schlägt oder uns der Muskelkater plagt, erhalten wir Sinnesdaten aus unserem Inneren, die nicht über die üblichen Sinnesorgane an das Gehirn gelangen. Auch die Körperorgane sind Teil unserer informationsliefernden Welt, und die Mitteilungen, die wir von ihnen erhalten, nehmen Einfluss auf unser Verhalten – sei es, dass wir essen, tief durchatmen oder nach einer Strapaze ausruhen. Vieles von dem, was wir als Intuition bezeichnen, stammt aus den Meldungen dieser anderen, im Alltag oft vergessenen Sinne.
Veröffentlicht im Februar 2005 © by www.berlinx.de
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