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Gibt es ein intuitives Wahrnehmen?

Neun Sinne hat Egonet in den vergangenen Monaten vorgestellt: Auge, Ohr, Gehör, Geschmack, Tasten, Gleichgewicht, Temperatur, Schmerz und innere Körpersignale. Das unterbewusste Registrieren von feinen Schwingungen ist damit in Wahrheit unser zehnter Sinn.

Als Weihnachten 2004 im Indischen Ozean die Flut die Küsten überschwemmte, waren Tiere schon geflohen. Affen, Leoparden und Elefanten hatten sich längst in Sicherheit gebracht, als der Tsunami den Nationalpark auf Sri Lanka erreichte. Viele Tierarten verfügen über feinere Sinne, können zum Beispiel leisesten Schwingungen im Boden registrieren. Andere Tierarten können das nicht, flüchten aber sofort, sobald sie beobachten, dass empfindsame Tierarten in Alarmstimmung geraten. Auch Naturvölker sind dazu in der Lage. Manche Eingeborene suchten kurz vor dem Tsunami höher gelegene Gebiete auf, ohne genau beschreiben zu können, welche Veränderungen ihrer Umwelt sie alarmiert hatten.

Und hochzivilisierte Menschen wie Sie und ich? Sie sitzen auf einer Bank im Park und schauen auf die spielenden Kinder vor ihnen. Plötzlich haben Sie das Gefühl, hinter Ihnen steht jemand. Sie drehen sich um und tatsächlich – Ihre Verabredung schleicht sich an mit der Absicht, Ihnen die Hände über die Augen zu legen und „Überraschung!“ zu rufen. Sie sind sich sicher, nichts gehört zu haben. Woran haben Sie sie erkannt?

Forscher, die das Phänomen systematisch untersuchen wollten, erhielten keinen zweifelsfreien Beweis, dass es ein intuitives Erkennen gibt. Aber auch das Gegenteil konnten sie nicht nachweisen. Tatsächlich drehen sich im Experiment eine Reihe von Leuten um, wenn sich jemand still nähert. Andererseits: Mindestens ebenso viele reagieren nicht, und wieder andere drehen sich auch auf Verdacht um, wenn sich keiner nähert. Vermutlich sind also eine Reihe von Zufallstreffern darunter – und an die Erfolge erinnern wir uns eher. Der Gegenbeweis ist leicht zu führen: Nähern Sie sich mal als Jogger von hinten Spaziergängern. Auffallend viele bemerken Sie nicht – trotz ihres heftigen Atmens und Ihrer schnellen Schritte – sondern erschrecken, wenn Sie sie überholen.

Haben Schwingungen einer unbekannten Energie auf telepathischem Wege den Wartenden auf der Parkbank erreicht? Wohl kaum. Viel wahrscheinlicher ist es, dass unser Gehirn über die neun Sinne eine Reihe von Informationen registriert, die unterbewusst bleiben. Das heißt, wir haben sie wahrgenommen, ohne es zu merken. Wir haben in den vorigen Folgen dieser Serie beschrieben, wie das Gehirn die Daten mehrerer Sinne zu einem neuen Gesamteindruck zusammenfügt. Er verwandelt sich in eine eigenständige Botschaft, die „innere Stimme“.

Joshua Brown und seine Kollegen von der amerikanischen Washington-Universität haben vor wenigen Wochen ein spezielles Zentrum im Gehirn entdeckt, das solche Eindrücke registriert, ohne sie ins Bewusstsein zu heben. Der Anterior Cingular Cortex (ACC) befindet sich am oberen Ende des Frontallappen. Dieser Hirnbereich wird immer aktiv, wenn etwas schief geht oder Schwierigkeiten auftreten. Mit der Zeit lernt er, im Voraus auf Alarmsignale zu achten, um schon aktiv zu werden, bevor ein Unglück eintritt.

Da aber der optische Sinn (und zum Teil noch das Gehör) die übrigen Eindrücke dominiert, verdrängen wir im Alltag sehr leicht die Gesamtbotschaft. Fühlen wir zum Beispiel ein Unbehagen, obwohl uns der Makler beim Häuserkauf gewinnend anlächelt und großartige Argumente vorbringt, schaltet sich der Kopf als Schiedsrichter ein. Findet er bei der Überprüfung keine Ursachen für das Unbehagen, geht er großzügig darüber hinweg. Das kann ein teurer Fehler sein. Vielleicht hat die Nase unbewusst registriert, dass das Holzhaus, für das wir uns interessierten, mit künstlichem Holzduft aufgepeppt wurde? Oder die Hand spürte, dass sich die Oberflächen zu makellos glatt anfühlten?

Über den „sechsten“ Sinn verfügt, wer auf solche Alarmsignale achtet und sie zu deuten weiß. Das ist eine Sache der Übung. Dazu gehört:
• Täglich ein paar Minuten lang sich bewusst machen, was alle neun Sinne gerade registrieren.
• Gezielt die Sinne trainieren. Die Zunge und Nase verschiedenen Substanzen aussetzen, Musik hören, selber spielen und dabei auf Feinheiten achten, Einzelheiten menschlicher Körpersprache beobachten, besonders Widersprüche (zum Beispiel Lächeln und zugleich nervöses Fingerhakeln).
• Sich fragen; Was ist meine Gesamtempfindung? Erkenne ich die Gründe dafür? Was beunruhigt mich? Wo fühle ich den Sog der Verführung und warum?
• Mit vielen Menschen zusammentreffen und viel in die Natur gehen. Dabei „auf Empfang“ schalten – also eigene Urteile so lange wie möglich zurückhalten und Eindrücke wirken lassen.
• Sinneseindrücke entstammen dem Jetzt und Hier. Geht es um künftige Entscheidungen, mischt sich das Gedächtnis mit schon verarbeiteten Eindrücken ein. Wenn Sie Ihre Intuition erfolgreich üben wollen, so nutzen Sie sie daher in erster Linie für momentane Entscheidungen „aus dem Bauch heraus“, nicht für Vergangenes, Zukünftiges oder räumlich Entferntes.

Veröffentlicht im März 2005 © by www.berlinx.de

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