Wie die Zunge unser Stilempfinden prägt

Gegenüber Augen, Ohren und Nase wirkt die Zunge armselig. Sie unterscheidet nur fünf Nuancen. Dennoch hat der Geschmack wie kein anderer unserer Sinne Kultur und feine Sitten geprägt.

Ein Löffel Tee und ein „Madeleine“ genanntes Sandtörtchen genügten, und in dem Schriftsteller Marcel Proust erwachte schlagartig die Erinnerung an den Kosmos seiner Kindheit und Jugend – genug Stoff für einen siebenteiligen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Erstaunlich, da dieser berühmte literarische Ausgangspunkt sich ausgerechnet auf eine Erinnerung des Schmeckens berief.

Wir lernten in der Schule, dass die Zunge nur vier Varianten unterscheiden kann: süß, sauer, bitter und salzig. Ihre Geschmacksknospen sind spezialisiert. Jeder Rezeptor nimmt nur eine der möglichen Geschmacksrichtungen wahr. Doch schon 1908 entdeckten Japaner, dass Glutamat vielen proteinreichen Speisen einen vollmundigen Geschmack verleiht und nannte diese fünfte Varianten umami. Doch erst im Jahre 2000 konnte die Hirnforscherin Nirupa Chaudhari die Glutamatrezeptoren in den Geschmacksknospen nachweisen.

Alle fünf Geschmäcker dienen der Grobunterscheidung von Nahrungsmitteln. Die Vorliebe für Süßes ist angeboren. Der ererbte Detektiv auf der Zunge von Mensch und Tier sucht damit nach Zucker, dem Energiespender in der Nahrung. Sauer und bitter warnen uns vor unreifen oder gar giftigen Früchten. Salziges mögen wir in gewissem, geringfügigem Ausmaß. Solche Speisen halten unseren Mineralhaushalt in Balance. Umami, so lautet die Vermutung, lädt uns ein, unseren Bedarf an aufbauenden Eiweißen zu decken. „Scharf“ ist genau genommen kein Geschmack, sondern lediglich ein Schmerzsignal. Pfeffer & Co. enthalten Substanzen, die die empfindlichen Geschmacksknospen verletzen – daher spüren wir ein Brennen auf der Zunge.

Können fünf Geschmacksrichtungen und ihre Kombinationen die Vielfalt unserer Gaumenfreuden erzeugen? Sicher nicht. Was edlen Speisen ihr unvergessliches Aroma verleiht, ist die Kombination des Schmeckens mit den Düften, von denen wir rund 10 000 unterscheiden können. Es genügt, sich die Nase abzuklemmen, und das wunderbare Aroma frisch gebrühten Kaffees verwandelt sich in den Geschmack von lauem Abwaschwasser. Auch eine Erkältung, die die Nase lahm legt, verdirbt einem die Freude an den Speisen, da der Kranke ihren Duft nicht mehr wahrnimmt.

Erst das Gehirn vernetzt Geruchs- und Geschmackseindruck zu einem einheitlichen Ganzen, das uns verführt, mehr Gourmetfreuden zu genießen als unserer Figur gut tun. Jeder zweite leidet heutzutage unter Übergewicht.

Sprechen wir von Geschmack, meinen wir immer die Kombination aus Schmecken und Riechen. Auch im übertragenen Sinne. Denn wer „Geschmack“ besitzt, kann Sinnesfreuden mit Intelligenz und einer Antenne für sinnliche Details verbinden. Und diese Kunst mit den höchsten Ansprüchen der Kultur kombinieren. Es ist kein Zufall, dass es die Franzosen waren, die von den Sinnen des Menschen ausgerechnet den „Geschmack“ zum Kennzeichen von Kultur erhoben haben, und ihm die sonst dominierenden Augen unterordneten. Das Volk der raffinierten Küche entwickelte sich seit dem Spätmittelalter zur stilbildenden Kulturnation Europas.

Der Franzose Pierre Bourdieu entwickelte sogar eine Theorie, dass die Unterschiede in der Geschmacksbildung zu einer neuen Klassengesellschaft führen. Wer in Kleidung, Tischsitten und Weinverkostung den Ton abgibt, bildet die neue Elite, während die Unterschichten sich mit Fettbombern die Figur verderben. In der Tat, so schrieb der französische Schriftsteller Michel Tournier, haben sich die Verhältnisse in der neuen Klassenstruktur umgekehrt. Waren vor der Industrialisierung die Reichen wohlbeleibt, die Armen aber mager und abgehärmt, so ist heute die Führungselite fit und schlank, während für die Unterschichten Übergewicht aus Fast Food typisch wird.

Dezember 2004 © by www.berlinx.de

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