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Vorbei die Zeiten, da Sex vor allem als Quelle der Lust galt. Viel stärker als vor 20 Jahren sind wir uns heute der Risiken bewußt, verbunden mit Anklagen gegen aufdringliche Männer. In der Tat gehen die Auffassungen, wo der Flirt aufhört und die Belästigung anfängt, bei Männer und Frauen weit auseinander.

1993 veröffentlichte die Verhaltensforscherin Christine Tramitz vom Max-Planck-Institut in Andechs eine aufsehenerregende Studie über das unbewußte Wechselspiel von männlichem und weiblicher Körpersprache unter dem bezeichnende Titel „Irren ist männlich“. Ihre These: Männer beurteilen weibliches Verhalten auch dann als eindeutige Aufforderung, wenn es gar nicht so gemeint ist. Im Experiment ließ sie männliche Studenten mit einer jungen Schauspielerin für einige Minuten allein und fragte sie hinterher, wie sie das Zusammensein empfanden.

Das Ergebnis: auch dann, wenn die Schauspielerin gleichgültige bis ablehnende Körpersignale – Schweigen, Abwendung, mißmutige Mimik – zeigte, äußerten die meisten Männer in der anschließenden Befragung, es habe zwischen ihnen beiden gefunkt. Von dieser Meinung gingen sie auch nicht ab, als ihnen eine Videoaufnahme dieser Begegnung vorgespielt wurde. Studentinnen, denen man diese Filme vorführte, erkannten dagegen genau, daß von einem erotischen Knistern keine rede sein konnte.

Im Erstkontakt zwischen den Geschlechter sind Frauen vorsichtiger und wählerischer. Das hat gute, biologische Gründe. Gerät sie an einen Filou, steht sie im Fall einer Schwangerschaft allein da. Männer hingegen streuen ihre Gene um so breiter, je mehr Frauen sie verführen können. Sie sind daher darauf geeicht, die Initiative zu ergreifen und den ersten Schritt zu tun. Und wenn sie sich zurückhaltend gibt, durch feurige Werbung die zögernde Frau doch noch von sich zu überzeugen.

Wir alle wissen aus den Medien: Flirten beginnt mit einem Wechselspiel der Blicke, wobei der ersten Augenkontakt von der Frau ausgeht. Experimente in Bars zeigen: eine Frau, die keinen Mann anschaut, wird auch nicht angesprochen. Wirft sie ihm jedoch nur einen kurzen Blick zu, interpretiert er das oft schon als Interesse. Auch dann, wenn sie lediglich alle anwesenden Personen nur mal kurz anschaut. Wir Menschen schauen unbewußt alle Leute kurz an, wenn wir einen Raum betreten. Männer haben offenbar Schwierigkeiten, Informations- und Flirtblicke voneinander zu unterscheiden.

Aber vielleicht wissen Männer ganz genau, daß die Frau kein Interesse hat und versuchen es trotzdem? Weil sie kein Benehmen haben oder vor ihren Kumpels ihren Mut beweisen wollen? Um das zu überprüfen, verglichen Forscher die Auffassungen von Männern und Frauen über sexuelle Belästigung. Wenn Männer genau merken, was Frauen empfinden, müßten beide Geschlechter bei Befragungen, wo sexuelle Belästigung beginnt, genau der gleichen Auffassung sein.

Eine Forschergruppe der Universität von Toronto (Kanada) hat 62 Studien aus aller Welt zu diesem Thema ausgewertet, in denen insgesamt über 33 000 Männer und Frauen befragt wurden. Das sind ihre Resultate:

Frauen und Männer sind sich einig in den Extremfällen: Grabschen oder direkte Aufforderungen zu sexuellen Handlungen zu Fremden oder unter Kollegen fallen unter die Kategorie „Belästigung“. Mit einer kleinen Einschränkung. Männer machen Unterschied, ob die Belästigung von einem Vorgesetzten oder von einem Gleichrangigen ausgeht. Letzteres empfinden sie als harmloser. Frauen empfinden beides als gleich schlimm.

Einen klaren Unterschied gibt es bei Einladungen zum Rendez-vous. Wenn Frauen eine Einladung ablehnen, erwarten sie, daß der Mann danach Ruhe gibt. Versucht er immer wieder, sie doch noch zu einem Rendez-vous zu überreden, empfindet sie das als lästig und aufdringlich. Männer dagegen beurteilen eine Einladung grundsätzlich als schmeichelhaft – auch wenn sie nicht daran denken, der Versuchung nachzugeben.

Für diesen Geschlechtsunterschied gibt es mehrere Gründe. Trotz aller Emanzipation gilt die klassische Rollenverteilung: er lädt sie ein. Kommt es einmal umgekehrt, empfindet er das als besondere Auszeichnung. Zum anderen sind Frauen stärker gefährdet. „Date-Rape“, Vergewaltigung nach einem Rendez-vous, ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Unbekannt ist, in wieweit eigene Erfahrungen der Frauen oder allein die vielen Filme, die mit Gewalt gegen Frauen für Nervenkitzel sorgen, die Angst vor Übergriffen im Bewußtsein halten.

Vermutlich letzteres, denn die Angst vor Belästigung ist in den letzten Jahren spürbar gestiegen, obwohl Gewaltdelikte gegen Frauen seit über zehn Jahren leicht im Rückgang begriffen sind. Es wird aber viel mehr über sie berichtet. Wahrscheinlich spielt aber noch ein anderer Faktor eine Rolle, den die kanadischen Forscher nicht untersucht haben: Mit dem Siegeszug des Single-Gesellschaft und dem häufigen Alleinleben fällt es Frauen und Männern zunehmend schwerer, die subtilen Körpersignale der Befindlichkeit zu erkennen und richtig zu interpretieren. Körpersprache ist zwar größtenteils angeboren, bedarf aber der Übung – ähnlich wie die Muskulatur, die sich auch zurückbildet, wenn sie nicht benutzt wird.

Die Studien zeigen aber auch, daß niemand Belästigung hilflos ausgeliefert ist. Den meisten Frauen fällt es schwer, Ablehnung eindeutig zu äußern. Videoaufnahmen belegen, daß ihr Nein oft zweideutig ausfällt. Sie versuchen den Mann nicht vor den Kopf zu stoßen und bemühen sich um einen freundschaftlich-verbindlichen Ton. Etwa ein Drittel der Männer mißversteht dieses Nein als Aufforderung, sich noch stärker zu bemühen.

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