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Der Rhythmus unseres Lebens

Ticken Sie richtig? Für Chronobiologen, die zeitliche Abläufe im Innern der Organismen erforschen, eine Routinefrage. In welchem Takt unser Körper schwingt, erfahren Sie bei EGO-Net.

Ihre wertvollste Uhr verfügt weder über Zeiger noch Ziffern. Sie tickt stumm und sorgt dafür, daß Ihre Zellen und Organe in einheitlichem Tempo zusammenarbeiten und dieses ganze Ensemble wiederum mit dem Wechsel von Tag und Nacht synchron läuft. Schon seit langem ist bekannt, daß wir nicht zu allen Tageszeiten gleich leistungsfähig sind. Die meisten von uns haben ein Leistungshoch am Morgen und ein weiteres am Nachmittag, während sie mittags und nachts auf Sparflamme fahren. Auch daß die einen Morgenmuffel und Nachteulen sind und die anderen lieber früh schlafen gehen und sich dafür am nächsten Morgen putzmunter fühlen, ist keine Neuigkeit.

Vor einem halben Jahrhundert eröffneten Wissenschaftler die systematische Erforschung unserer inneren Rhythmen, indem Sie ein Experiment organisierten, aus dem clevere Fernsehmacher heute „Big Brother“ und jede Menge Abklatschvarianten entwickeln. Die Forscher schlossen Freiwillige in einen Bunker ein, in dem es keine Uhren, kein Radio und nur künstliches Licht gab. Wie wäre es mit Schlafens- und Wachzeiten bei Menschen bestellt, die keine Möglichkeit hatten zu erfahren, wie spät es ist und ob draußen die Sonne oder die Sterne am Himmel stehen?

Zu ihrer Überraschung zeigte sich, daß die Versuchspersonen im wesentlichen denselben Tagesrhythmus einhielten, dem sie auch im normalen Alltag folgten. Mit einer interessanten Ausnahme. Ihr Schlaf-Wach-Rhythmus verlängerte sich ohne äußere Zeitgeber auf etwa 25 Stunden. Das heißt: wir haben eine innere Uhr, die vom äußeren Tageslicht ständig auf einen etwas kürzeren als den angeborenen Takt eingestellt wird.

Inzwischen sind viele Details über die Funktionsweise der inneren Uhr ans Tageslicht gekommen. Genau genommen, gibt es nicht nur eine, sondern viele biologische Uhren. Wenn Frauen um die 30, die noch ohne Kind sind, besorgt von ihrer tickenden biologischen Uhr reden, meinen sie das genetisch vorgegebene Tempo des Alterns, das letztlich durch die Geschwindigkeit der Zellteilungen vorgegeben ist. Also ihre Lebensuhr.

Körperzellen können sich rund fünfzig Mal teilen, das bedeutet bei durchschnittlichem Tempo, daß der Mensch maximal 120 bis 125 Jahre alt werden könnte – eine Zeitspanne, die wir aufgrund unserer Lebensweise nicht ausschöpfen. Wie diese Zeitspanne von den Genen geregelt wird, ist nicht genau bekannt. Wissenschaftler vermuten einerseits bestimmte Altersgene, seit es gelungen ist, durch gezielt gentechnische Eingriffe Würmer mehr als doppelt so alt werden zu lassen wie von der Natur vorgesehen. Andere verweisen auf die Telomeren – das sind Abschnitte an den Enden der Chromosomen, die nach jeder Teilung kürzer werden und nach dem fünfzigsten Mal so gut wie verschwunden sind.

Andere Rhythmen schwingen mit dem Wechsel der Jahreszeiten. Das betrifft insbesondere das Hormon Melatonin, das vom Körper nur produziert wird, wenn es dunkel ist. Ist viel vorhanden, stellt sich der Körper auf Müdigkeit ein. Da im Winter die Nächte länger als die Tageshelligkeit ist, sind wir im Sommer munterer als im Winter. Deshalb werden im Frühjahr munter und sexuell aktiv, während im November Depressionen zunehmen. Daß der Sommer die Zeit der stärksten Aktivität ist, läßt sich sogar auf Zellebene messen. Fuß- und Fingernägel wachsen im Juli schneller als in jedem anderen Monat.

Die biologische Uhr, die am auffälligsten in unsere Lebensplanung eingreift, ist die Tagesuhr. Inzwischen wissen wir, daß sie nicht nur ein Zusammenspiel der Zellen ist, sondern als eigenes Gebilde existiert. Es handelt sich um einen kleinen Knoten von 50 000 Zellen (was im Vergleich zu den 100 Milliarden Zellen des Gehirns sehr wenig ist) mit der Form und Größe des Buchstabens „V“ auf Ihrem Bildschirm. Sie ist Teil des Hypothalamus, der bohnengroßen Kommandozentrale des Gehirns für unsere wichtigsten Körperfunktionen. Sie folgt zwar einer genetisch vorgebenen Taktfrequenz, ist aber darauf eingerichtet, sich ständig an äußere Abläufe anzupassen.

Dunkelheit am Tage oder nächtliches Durchfeiern bei künstlichem Licht bringen die innere Uhr aus dem Takt. Auch Zeitverschiebungen durch Schichten oder Interkontinentalflüge bringen die Uhr und alle von ihr abhängigen Körperfunktionen durcheinander. Kein Wunder, daß Katastrophen, bei denen menschliches Versagen der Auslöser war, hauptsächlich in den frühen Morgenstunden zwischen drei und vier Uhr stattfinden. Das berüchtigste Beispiel: Die Reaktorexplosion von Tschernobyl.

Die innere Uhr ist nicht nur eine Quelle der Gefahr, sondern erlaubt Ihnen auch, Ihre Leistungsreserven viel effektiver als bisher einzusetzen, indem Sie Ihre Tätigkeiten auf optimale Tageszeiten verlegen. Das gilt für Arbeit und Erholung ebenso wie für den sparsamen Einsatz von Medikamenten.

Aber auch kürzere Abläufe werden vom Gehirn aus gesteuert. Deshalb weicht unsere subjektive Zeitwahrnehmung oft vom gleichmäßigen Tick-tack der äußeren Uhren ab. Sie kennen wahrscheinlich das Bonmot: Eine Minute ist unterschiedlich lang, je nachdem, auf welcher Seite der Klotür man sich befindet.

Wie lang uns eine Minute vorkommt, hängt davon ab, was in dieser Zeit passiert. Darüber gibt es Unterschiede zwischen momentanem Erleben und Erinnerung: Wartezeiten und Langeweile erscheinen uns unerträglich lang, weil nichts geschieht. Aus dem gleichen Grund schmelzen sie in der Erinnerung zu einem Punkt zusammen. Umgekehrt verfliegt bei spannenden Erlebnissen die Zeit im Nu. In der Erinnerung bleiben aber diese abwechslungsreichen Ereignisse erhalten und nehmen einen viel größeren Raum ein als die objektiv viel längeren Wartezeiten auf die freudigen Erlebnisse.

Ein ähnlicher Mechanismus ist wirksam, wenn wir älter werden. Kindern erscheint ein Jahr unendlich lang, weil ihre Vergangenheit und damit die Erinnerung nur wenige Ereignisse enthält. Ihre Gegenwart dominiert. Für älteren Leute verfliegen die Jahre immer schneller. Ihre Gegenwart nimmt im Vergleich zu ihrer wachsenden Erinnerung einen relativ immer kürzeren Zeitraum ein.

Das Zeitempfinden kann sogar ganz zum Stillstand kommen. Dann nämlich, wenn das Nervensystem keine Reize empfängt. Nach dem Erwachen aus der Narkose hat schon mancher Patient gefragt: „Wann beginnen Sie mit der Operation?“ Aber auch nach einem tiefen Schlaf ohne Traumerinnerung kann die Nacht zu einem Nichts zusammenschmelzen.

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