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Je sicherer und gefahrloser unserer Alltag ist, desto mehr Menschen treibt die Suche nach Risiken und unnö­tigen Ge­fah­ren an stei­le Fels­wände, zum Tri­athlon und zu Sprün­gen aus groß­en Hö­hen. Sinn­voll oder ein­fach ver­rückt?

Vielleicht säßen wir alle noch im Urwald auf Bäumen, wenn nicht einige Wagemutige vor Millionen Jahren den Sprung auf den Boden gewagt hätten. Doch das war nur der Anfang. In Scharen verließen ihre Nachfahren die afrikanische Heimat und wanderten über Europa und Asien bis nach Amerika und Australien aus.

Kinder begeistern sich für Entdecker. Selbst die Erwachsenen sitzen zwar auf dem sicheren Sofa, aber lassen sich von TV-Abenteurern gern in exotische Fernen entführen. Wir schätzen die Sicherheit, aber sehnen uns nach Aufregung, Spannung und Bewährungsproben.

Deswegen leben auch unter uns zahlreiche Wagemutige. Sie treiben Extremsportarten oder veranstalten Autorenn- und Saufwettbewerbe. Statt gemütlich am Strand zu liegen, wandern sie durch kalte und nasse Landschaften und erzählen mit leuchtenden Augen, wie die Mücken sie beim Wildcampen zerstochen hatten.

Warum tun wir uns das an? Die übliche Erklärung lautet: Je sicherer unserer Alltag, desto mehr brauchen wir als Ausgleich das Risiko. Aber auch in früheren, unsicheren Jahrhunderten gab es schon Abenteurer. Und zwar mehr als heute. Die Wissenschaft spricht vom „Odysseusfaktor“, benannt nach dem König von Ithaka aus der Sagenwelt Homers. Nach Ende des trojanischen Krieges irrte Odysseus zehn Jahre durch das Mittelmeer. Er hatte viele Gefahren zu bestehen, ehe endlich nach Hause zurückkehren durfte – und selbst im eignen Heim musste er noch einen gefährlichen Kampf gegen Rivalen bestehen.

Psychologen vermuten, dass wir von Natur aus ein bestimmten Maß an Er- und Aufregung brauchen, um uns wohlzufühlen. Ständig in einer sicheren Umgebung herumzusitzen, erzeugt Frust. Sich neuen Eindrücken aussetzen, ungewisse Situationen meistern und freiwillig Anstrengungen auf sich nehmen, ist dagegen ein vorzüglicher Stimmungsaufheller. Schon eine halbe Stunde im Dauerlauf durch die Natur wirkt gegen schlechte Laune ebenso gut wie ein Medikament.

Bei Aufregung produziert der Körper Endorphine. Das sind körpereigene Drogen, die Schmerz dämpfen und häufig als Glückshormone bezeichnet werden. Doch sie allein reichen nicht aus, um die Lust am Extrem zu erklären. Um als Langstreckenläufer regelmäßig diese Euphorie zu erreichen – den „Runner’s High“ – müssten Sie länger als eine Stunde ein Tempo durchhalten, das nur täglich trainierende Profis schaffen.

Daher haben die Forscher inzwischen ihr Augenmerk auf einen anderen Mechanismus gerichtet, den „Tunnelblick“. Extremsportler berichten immer wieder, dass unter der Belastung grüblerische Gedanken über Alltagssorgen verschwinden. Das Bewusstsein verengt sich auf den Augenblick, Vergangenheit und Zukunft werden gleichgültig. Dafür wird die Gegenwart intensiv erlebt. Die Sinneseindrücke sind schärfer und man spürt den eigenen Körper so stark wie nie vorher. Dieser meditative Zustand –auch „Flow“ genannt – ist mit befreienden Glücksgefühlen verbunden.

Doch Vorsicht! Dieses angenehme Gefühl entspringt einem Mangelzustand. Das Gehirn schaltet alles Nachdenken ab, weil es an der Grenze seiner Belastbarkeit arbeitet. Es braucht all seine Energie, um die grundlegenden Lebens­funktionen aufrechtzuerhalten, weil der Körper sich alles abverlangt, was er überhaupt leisten kann. Die Großhirnrinde wechselt in einen Sparmodus. Dann versagen auch die inneren Alarmsysteme, die uns warnen, bevor wir uns überlasten.

Diese Abschalten macht die Abenteuerlust gefährlich. Die meisten, die den „Kick“ suchen, wollen ja nur ein kalkuliertes Risiko eingehen. Sie verwenden Sicherungsleinen und wissen, wie viel sie sich gerade noch zumuten können. In der Euphorie glaubt man dann auf einmal, der soeben erlebte Flow erlaube einem, alle Grenzen zu überschreiten und sämtliche Rekorde zu schlagen. Wie in einem Alkoholrausch driften Selbstwahrnehmung und Realität auseinander.

Damit das Abenteuer ein „gesunder“ Genuss bleibt, empfehlen Sportpsychologen folgende Regeln einzuhalten:

  • Legen Sie vor dem Training Ihr Pensum fest. Egal, wie toll Sie sich unterwegs fühlen – hüten Sie sich, Ihr geplantes Pensum zu überschreiten.
  • Auch das Abenteuer will trainiert sein. Die Entdecker früherer Zeiten sammelten erst in den Küstengewässern Erfahrung, bevor sie sich aufs offene Meer hinauswagten. Steigern Sie die Dosis also langsam. Wenn Sie sich Stunden nach der Anstrengung besser fühlen, sind Sie im grünen Bereich. Müssen Sie sich dagegen länger als einen Tag erholen, war die Belastung zu hoch.
  • Wenn Sie mehrere Tage aussetzen – haben Sie dann Entzugserscheinungen? Dazu gehören Unruhe, Gereiztheit, Ängstlichkeit und schlechte Laune. Auch Sport und Risiko können süchtig machen. Senken Sie in diesem Fall die Trainingsintensität oder wechseln Sie zeitweise auf eine andere Sportart.

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veröffentlicht im September 2011 © by www.berlinx.de

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