Wann es lohnt, Dinge auf die lange Bank zu schieben

Der Fachbegriff lautet Prokra­stination – viele leiden daran, nur wenige genie­ßen das lässige Nichts­tun. Ist es wirklich so schlimm, Ter­mine und Auf­gaben schleifen zu lassen?

Hand aufs Herz – erheben Sie sich sofort beim ersten Weckerläuten? Oder drehen Sie sich noch mal um, warten gar das zweite Schrillen fünf Minuten später ab?
Anti-Stress-Experten empfehlen, den Tag geruhsam anzugehen und dafür eine Viertelstunde eher aufzustehen. Haben Sie es mal probiert? Ohne dabei zu denken „jetzt könnte ich mich noch mal schön ins warme Bett wühlen“?

Wenn es vernünftig ist, Dinge sofort zu erledigen – warum folgen so wenige diesem weisen Rat? Die Erklärung ist einfach. Wir machen schon früh die Erfahrung, dass sich viele Dinge von allein erledigen. Ohne unser Zutun. Wir müssen nur abwarten. Da hat man rechtzeitig für die Mathearbeit gelernt, und dann fiel die Stunde aus, weil er Lehrer Opfer der Grippewelle wurde. Der Sitznachbar, der statt zu lernen das Pokalspiel angesehen hat, lacht sich ins Fäustchen. Ist es da nicht besser abzuwarten? Und wenn es wider Erwarten Ernst wird, erst im letzten Moment loszuackern? Oder auf Spickzettel und Kumpels zu vertrauen, die einen abschreiben lassen?

Zugegeben, moralisch klingt das nicht. Daher auch der erhobene Zeigefinger mit dem Spruch „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“ Wieso eigentlich nicht? Psychologen nennen die Lust am Abwarten Prokra­stination. Darin steckt das lateinische cras, was „morgen“ bedeutet. Es widerspiegelt die Realität – wir verschieben die Dinge auf morgen, aber mit schlechtem Gewissen.

Wenn also in Zukunft jemand Sie als „faule(r) Sack/Schlampe“ beschimpft, entgegnen Sie: „Von wegen! Ich bin Prokra­stinateur(in)!“ Das klingt cool und nach bewusster Lebensstrategie. Und dann zaubern Sie ein paar Argumente hervor, die sogar wissenschaftlich belegt sind. Wer zuviel putzt, riskiert Allergien, da das Immunsystem den Schmutz braucht, um seine Abwehrkräfte zu trainieren. Fenster nicht zu putzen, ist sogar ein Beitrag zum Naturschutz. Vögel knallen tödlich gegen Fensterscheiben, die zu sauber und für sie daher unsichtbar sind.

Wie erfolgreich man Probleme „aussitzen“ kann, hat Helmut Kohl in sechzehn Jahren Kanzlerschaft vorgemacht. Wenn eine Schwierigkeit gar mehrere Leute betrifft, braucht man nur abzuwarten, bis der erste die Geduld verliert und seufzend den Anfang macht. Meist ist es im Team immer derselbe Eifrige. Stellen Sie sich vor, Sie haben zu Dienstschluss alle Aufgaben erledigt und gehen pünktlich nach Hause. Welcher Chef käme da nicht auf die Idee, Sie wären nicht ausgelastet? Prompt haben Sie zusätzliche Arbeiten am Hals und die schadenfrohen Gesichter der Kollegen vor Ihren Augen.

Deswegen sind wir Deutschen auch als Weltmeister im Jammern verschrien. Wer wegen Überlastung jammert, demonstriert Arbeitseifer ohne viel zu leisten. Aufschieberitis kann allerdings krankhafte Formen annehmen. Zum Beispiel wenn einer erst dann arbeiten kann, wenn bis zum Abgabetermin nur noch zwei Stunden Zeit sind. Oder aus dem Aufschieber ein Messie wird – also sich in Wohnung und Büro unerledigte Briefe, Protokolle und andere Papiere stauen. Diesen Fall schilderte Elias Canetti (Literaturnobelpreis 1981) schon 1974 in seiner Erzählung „Der Verschlepper“.

Nicht zuletzt ist Aufschieberitis auch ein Akt der Rebellion. Wer nicht sofort springt, wenn der Chef befiehlt, leistet Widerstand gegen die allgegenwärtige Arbeitshetze. Gegen die Verteilung von immer mehr Aufgaben auf immer wenige Schultern. Gegen den Versuch auf seine Kosten Arbeitskräfte einzusparen. Auch die Steuererklärung verspätet abgeben oder überhöhte Rechnungen erst nach der zweiten Mahnung begleichen, geht häufig mit einem renitenten Gefühl der Schadenfreude einher: Ich bin Luft für die? Denen wird ich zeigen, wie dick diese Luft sein kann.

Die Erfahrung sagt freilich, dass sich nicht alle Probleme von selbst erledigen. Der clevere Aufschieber bleibt wachsam. Selbst wenn neun von zehn Ärgernisse sich in Wohlgefallen auflösen – das zehnte könnte sich zu einer mittleren Katastrophe auswachsen, wenn man nichts unternimmt. Ziehen Sie die Notbremse, sobald sich ein Teufelskreis von Ärgernis – Ignorieren – größerer Ärger herausbildet.

Unsere Buchtipps: Kathrin Passig, Sascha Lobo: Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin. Rowohlt Berlin 2008.
Elias Canetti: Der Verschlepper. In: Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere. S. Fischer Taschenbuch 1981.

Lesen Sie bei uns auch:
Messies Lernen Sie, das alltägliche Chaos zu bändigen
Faulheit Nichtstun will gelernt sein

veröffentlicht im November 2009 © by www.berlinx.de

No votes yet.
Please wait...