Warum wir peinliche Gefühle entwickeln
Man wird rot und möchte am liebsten im Erdboden versinken. Keiner ist gegen Peinlichkeit gefeit. Doch warum empfinden wir Scham? Warum lassen uns Blamagen nicht kalt?
Eine abfällige Äußerung über einen Dritten – und der steht plötzlich hinter mir. Ich erscheine zu einer Party in Jeans, alle anderen aber tragen Anzüge oder Abendkleid. Ich gestikuliere beim Erzählen und der Inhalt der Kaffeekanne ergießt sich über Tischdecke und mehrere Gäste. Wie peinlich!
Scham ist ein soziales Gefühl. Es entsteht, wenn die Fassade von Benimm und Wohlanständigkeit zusammenbricht. Wenn ich die Normen, die ich mir selbst für mein Auftreten gesetzt habe, plötzlich nicht mehr erfüllen kann. Wenn das Bild, das ich von mir selbst habe, sich als Fälschung erweist, weil ich voll ins Fettnäpfchen getreten bin.
Dabei sind drei eng verwandte Empfindungen zu unterscheiden:
Blamage: Das ist das nicht normgerechte Verhalten, das nicht nur andere, sondern auch der Urheber als tadelnswert erlebt.
Verlegenheit: Das in der Situation ausgelöste Empfinden, eine Blöße gezeigt zu haben.
Scham: Das länger andauernde Gefühl, durch eine Normverletzung sich als Person gezeigt zu haben, die nicht in der Lage ist, die sozialen Normen zu erfüllen. Damit verbunden sind Gefühle der Unterlegenheit und der Wunsch, das auslösende Ereignis rückgängig machen zu können.
Seltsamerweise gibt es keine einheitlichen Vorgaben, wofür man sich schämen sollte. Was den einen zum heftigen Erröten bringt, lässt seinen Nachbarn kalt. Zwar gelten einige Normverstöße – wie in unseren Eingangsbeispielen – bei den meisten als blamabel. Doch der subjektive Spielraum ist groß. Mit welchen Normen ich mich stark identifiziere und welche ich als unwichtig betrachte, ist von Person zu Person sehr verschieden. Wenn zum Beispiel ein Fremder hereinplatzt, wenn Sie gerade nackt oder beim Sex zugange sind? Die einen kreischen erschrocken auf und bekommen noch Tage danach bei der Erinnerung einen roten Kopf und Schweißausbrüche. Andere lachen darüber.
Sogar positive Erlebnisse können Verlegenheit und Scham auslösen. Zum Beispiel ein überschwängliches, öffentliches Lob. Wer nicht weiß, wie er reagieren soll, wenn plötzlich alle Augen erwartungsvoll auf einen gerichtet sind, empfindet Scham.
Scham ist ein allgemein menschliches Gefühl. Sie findet sich in allen Kulturen, weltweit. Mit ihr reagiert der Einzelne auf Erwartungen seiner Umwelt. Sie zeigt sich auch körperlich: im Erröten, im zur Seite und nach unten Schauen. Mit Demutsgesten steigt der Sünder von seinem hohen Ross und signalisiert, dass er bereit ist, sich den Normen zu fügen.
Aber nicht nur eigene, auch fremde Sünden lösen Scham aus. Der Faux pas eines Fremden mag ihm nicht peinlich sein, aber die Zuhörer winden sich innerlich vor Scham. Sogar eine Fernsehsendung wie „Big Brother“ oder „Dschungelcamp“ kann soviel Peinlichkeiten abliefern, dass sich der Zuschauer die Augen und Ohren zuhält! Die Einschaltquoten mancher Shows sind nur damit zu erklären, dass Fremdschämen Überlegenheitsgefühle bei Millionen Zuschauern auslösen, die sie jede Woche mit wohligem Schaudern genießen.
Die besten Therapie gegen Scham ist es, sich die peinlichen Gefühle einzugestehen. Damit mache ich mir meine Schwächen bewusst und kann gegensteuern. Verdrängte Schamgefühle dagegen können sogar gefährlich sein! Etwa, wenn man nicht zum Arzt geht, weil man sich für eine Krankheit schämt! Oder Angst hat, die Symptome könnten sich als so harmlos herausstellen, dass der Arzt einen auslacht. Mehr als jeder zweite Deutsche soll laut Umfragen damit Probleme haben.
Der erste Schritt ist es also, sich zumindest vor sich selbst die Scham einzugestehen. Dann kann ich mich fragen: Wie schlimm war das Ereignis wirklich? Aus gehörigem Abstand gefragt: Wofür schäme ich mich eigentlich? Ist meine Ehre verletzt? Woran mache ich meine Ehre fest? Welche Normen habe ich als Maßstab gewählt? Wie streng sind meine Normen? Haben die anderen Beteiligten den Vorfall genauso oder anders empfunden? Würde ich mich auch schämen, wenn ich allein gewesen wäre?
Wer lernt, sich mit seinen Fehlern zu akzeptieren, schämt sich weniger. Oftmals beurteilen unsere Mitmenschen unsere Ausrutscher viel weniger streng als wir selbst. Vor allem haben die meisten den Vorfall schon nach wenigen Minuten vergessen. Nur ich grüble noch tagelang.
Buchtipp:
Stephan Marks: Scham – die tabuisierte Emotion. Patmos Verlag 2007, € 19,90
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Veröffentlicht im Juni 2008 © by www.berlinx.de
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