Wie aufrichtig sind wir?

Immer ehrlich sein  – wer wollte das nicht? Doch nicht nur Politiker und Banker täuschen Selbst­losigkeit vor, wenn es um ihre persön­lichen Vorteile geht.

„Ich weiß, sie tranken heimlich Wein und predigten öffentlich Wasser“, schrieb Heinrich Heine vor bald zweihundert Jahren. Das gilt noch heute. Egal, wie viel Unglück der Mensch anrichtet – jedermann beteuert seine guten Absichten. Der einzige „Fortschritt“: Durch Fernsehen und Internet erreicht Heuchelei in Sekunden­schnelle den ganzen Planeten. Zu Heines Zeiten war die Postkutsche das schnellste Transport­mittel für Informa­tionen. Wenige Jahre danach begann mit dem Telegraf das Medien­zeitalter.

Was unterscheidet Heuchelei von der einfachen Lüge? Gelogen wird über Fakten. Geheuchelt werden Gefühle. Heuchler täuschen eine Gemüts­bewegung vor. Bei einem Begräbnis sollen wir trauern. Nach einem Fehltritt sollen wir uns schämen. Wer ein Geschenk erhält, sollte überraschte Freude zeigen. Am meisten geheuchelt werden Zuneigung und Interesse am anderen.

In manchen Jobs gehört die Kunst der Heuchelei zum Berufsbild. Denken wir an die freundliche Verkäuferin, den verständnisvollen Bankberater oder den selbstlosen Arzt, der nur das Patientenwohl im Auge hat. Wer gut ist in seinem Job, liefert uns die Emotionen, die wir von ihm erwarten. Bei Schau­spielern akzeptieren wir gern, dass die dargestellten Gefühle nicht seine eigenen sind. Bei anderen ahnen wir es. Zur Heuchelei gehören immer zwei – der Heuchler und sein Klient, der Mitgefühl einfordert.

Heuchelei ist also nicht nur ein Charakter­fehler einzelner schwarzer Schafe. Auf der einen Seite stehen die Kunden, die bestimmte Gefühle erwarten. Auf der anderen die Lieferanten, der uns die Gefühle verkaufen. Wir fordern, dass ihre Gefühle echt sein sollen. Das führt zu einer Erwartungs-Spirale. Wir lernen mit der Zeit immer besser, echte von falschen Gefühlen zu unterscheiden. Folglich ist der Heuchler gezwungen, immer gekonnter zu heucheln.

Gefühle vorzutäuschen ist nicht ungefährlich. Je besser man Gefühle vorspielt, desto größer die Chance (oder Gefahr), dass sich der Heuchler in sein Spiel hineinsteigert. Falsche Gefühle können in echte Empfin­dungen umkippen. Der Gewohnheits­­heuchler glaubt am Ende selbst an seine vorge­täuschten Emotionen. Heuchler, die sich selbst glauben, sind besonders erfolgreich!

Wäre es besser, nie zu heucheln? Wer bei Trauer­feiern kichert oder jeder Wut freien Lauf lässt, wird bald sehr einsam sein. Die Normen des Zusammen­lebens erlauben es uns nicht, immer aufrichtig zu sein. Sozial ange­messenes Verhalten und Heuchelei sind zwei Seiten derselben Medaille.

Das Entscheidende ist nicht, wie oft wir Gefühle vortäuschen. Sondern ob wir es tun, um unseren Mitmenschen zu schaden oder um ihre Empfind­lichkeit zu schonen.

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veröffentlicht im Mai 2013 © by www.berlinx.de

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