Wie abhängig sind wir von Inter­net, Handy und Navi?

Digitale Technik er­leich­tert das Le­ben, aber macht sie uns auch kom­pe­ten­ter?
Oder wer­den wir immer hilf­loser, wenn die Ge­rä­te mal versagen?

Vor zwei­einhalb­tau­send Jah­ren be­klag­te Pla­ton die Ein­füh­rung der Schrift. Das Auf­schrei­ben ha­be ver­hee­ren­de Fol­gen für das Ge­dächt­nis. Wer würde sich noch lange Geschichten wie die Odyssee merken und aus­wendig vortragen, wenn man sie bequem vom Papyrus ablesen könne?

Doch Platon hielt sich nicht an seine eigenen Lehre. Er schrieb seine Philosophie auf. Seine überlieferten Schriften umfassen mehrere Bände. Darin lässt er seinen Lehrer Sokrates Platons Ansichten verkünden. Sokrates selbst hinterließ keine einzige Zeile. Sokrates verbreitete seine Philosophie nur mündlich – also genau das, was Platon forderte, wogegen aber er als einer der ersten verstieß.

In den 1970er Jahren zog der Taschen­rechner in die Schul­klassen ein. Lehrer protestierten. Welches Kind würde noch das Einmal­eins auswendig lernen? Die Fähigkeit des Kopf­rechnens würde verloren gehen. Und mit ihr wichtige Grund­lagen der Intel­ligenz und die Bereitschaft, den eigenen Grips anzustrengen.

Trotz aller Bedenken – der Taschen­rechner zog in die Klassen­räume ein. Es folgten Computer, Handy und Smartphone. Längst liefert das Internet fertige Hausarbeiten. Wer hat es noch nötig, mühsam in Bibliotheken und Archiven Informationen zusammen­zu­suchen? Der Verdummung scheint Tür und Tor geöffnet.

Trotz aller Unkenrufe wuchs bis in die 1990er Jahre der durchschnittlich Intelligenz­quotient weiter an. Jede Generation war klüger als die vorige. Nach seinem Entdecker wurde dieser Vorgang als Flynn-Effekt bezeichnet. Die Erklärung lautete: Die neue Technik macht zwar das mecha­nische Auswendig­lernen überflüssig. Dafür werde es wichtiger, die vielen Informations­quellen zu managen. Es kommt darauf an, sich Zusammen­hänge zu merken. Das fördert die Kreativität und fordert das Gedächtnis stärker als bloßes Kopfrechnen.

Seit den 90er Jahren wächst die mittlere Intelligenz jedoch nicht weiter. Sie ist sogar leicht rückläufig. Als Ursachen werden Einwanderung und die sinkende Zahl junger Menschen vermutet. Den Anstieg der Intelligenz in den Jahren davor führten die Forscher darauf zurück, dass immer mehr Arbeiter­kinder über Abitur und Hochschul­bildung verfügten. Ob Zu- oder Abnahme – die Technik scheint keinen Einfluss auf Klugheit oder Dummheit zu haben.

Wie abhängig Sie von der Informations­technik sind, verrät Ihnen ein einfaches Experiment. Versuchen Sie mal, eine Woche ohne alles auszukommen, was einen Chip in sich trägt. Also ohne Computer, Navi, Handy, E-Mail und Internet. Sie müssten sich übers Festnetz so verabreden, dass keiner im letzten Moment per Handy absagen kann. Sie müssten mit Stadtplan und schrift­lichen Notizen agieren. Sie müssten Glückwünsche zwei Tage vorher einem Brief­kasten anvertrauen. Sie wären wieder auf Zeitungen, Bibliotheken und Lexika angewiesen. Wenn Sie so eine Woche erfolgreich meistern – Gratulation! Sie leiden noch nicht an „digitalem Alzheimer“.

Bisher weiß die Wissenschaft erstaunlich wenig darüber, ob die bequeme Technik unsere Intelligenz beein­trächtigt. Jahrhunderte ­lang mussten Schüler seitenlange Gedichte auswendig lernen. Dass dies ihrem Gedächtnis auch im Alltag nützte, blieb eine unbewiesene Annahme. Als dieses Pauken vor fünfzig Jahren eingeschränkt wurde, wuchs die mittlere Intelligenz weiter statt zu sinken.

In den letzten Jahren testeten US-Forscher, welche Folgen das Internet für das Gedächtnis hat. Das Ergebnis: Studenten vergessen Inhalte häufiger, wenn sie wissen, dass sie im Internet gespeichert sind. Dagegen merken sie sich, was sie bei Google, Wikipedia & Co. nicht finden. Unser Gedächtnis strengt sich dort an, wo es notwendig ist.

Es gibt auch keine Anzeichen, dass der menschliche Erfinder­geist erlahmt. Im Gegenteil: Die Flut neuer Erkenntnisse nimmt immer schneller zu.

Wer nicht mehr Kopf­rechnen oder Stadt­pläne auswendig lernen muss, kann sein Hirn mit komplexeren Aufgaben belasten. Trotzdem liegt in der Abhängigkeit von der Technik eine Gefahr. Was tun, wenn der Akku leer ist oder der Strom ausfällt? Wenn ein Virus das Internet lahm legt?

Können Sie noch beim Einkaufen Preise im Kopf zusammen­rechnen? Finden Sie sich zu Fuß ohne Navi im Stadtzentrum zurecht? Wenn Sie eine Information brauchen, die Sie nicht gleich im Internet finden – wissen Sie, wie Sie auf anderen Wegen an sie herankommen?

Wenn Sie diese Fragen guten Gewissens mit Ja beantworten können, sind Sie klüger als Ihre Großeltern­generation. Denn Sie besitzen noch deren Fähigkeiten und beherrschen zusätzlich die neue Technik.

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veröffentlicht im Februar 2012 © by www.berlinx.de

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