Die dunklen Kräfte in uns
Kennen Sie jemanden, der nicht glaubt, ein guter Mensch zu sein? Wenn sich aber jedermann für gut hält, wo kommt das viele Böse her?
„Wir wären gut – anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, reimte Brecht 1928 in seiner Dreigroschenoper. Ändere die Verhältnisse und alle sind gut? Die täglichen Nachrichten belehren uns: Weder Wohlstand noch liebevolle Eltern können Ausbrüche des Bösen verhindern. Es gibt Kinder, die andere Kinder zu Tode quälen. Ein unauffälliger Durchschnittstyp erschießt im friedlichen Norwegen Dutzende von Jugendlichen. Und ob sich die drei Mörder aus Zwickau selbst als böse bezeichnet hätten? Nicht zu vergessen Hitler, Stalin, internationale Terroristen, aber auch Amokläufer in den wohlhabendsten Gegenden der Welt.
Der englische Philosoph Terry Eagleton unternimmt es in seinem jüngsten Buch, „Das Böse“ von allen Seiten zu beleuchten. In zwei Jahrtausenden hatten seine Vorgänger unterschiedliche Ideen entwickelt, warum es mehr Böses als Gutes auf der Welt gibt:
Sokrates hielt das Böse für Unwissen. Da nur der Tugendhafte glücklich wird, muss man die Unglücklichen lediglich über den Nutzen der Tugend aufklären. Immanuel Kant kehrte diese Idee um: Wir alle tragen das moralische Gesetz in uns, wissen also, was gut ist. Aber wir haben den Hang, vom moralischen Gesetz abzuweichen.
Augustinus und das Christentum hielten das Böse teils für eine Folge des Sündenfalls, teils für einen Mangel an Vollkommenheit. Durch Gebet und gute Taten können wir dem Ideal zumindest näher kommen.
Leibniz hielt das Böse für notwendig, damit das Weltganze funktioniert. Hegel meinte, das Böse sei der Preis der menschlichen Freiheit. Würden alle gut handeln, wären wir nicht frei, sondern zur Güte gezwungen. Frei ist nur, wer sich auch dagegen entscheiden kann.
Doch warum nutzen einige ihre Freiheit so destruktiv? Schelling gab eine erste psychologische Erklärung: Bosheit ist Hass auf die Realität. Sie zeigt uns unsere Grenzen auf. Wer an ihren Grenzen scheitert, möchte sich rächen. Wenn man die Realität nicht ändern kann, will man sie wenigstens zerstören.
Jaspers fügte hinzu: Da auch das Ich Teil der Realität ist, rächt sich der Böse an seinem eigenen Unvermögen, nimmt keine Rücksicht auf sich selbst. Es zerstört auch seinen Urheber.
Terry Eagleton greift in seinem Buch eine Unterscheidung von Schopenhauer auf. Dem Guten stehen gleich zwei negative Kräfte gegenüber: das Schlechte und das Böse.
Das Schlechte ist nach Eagleton unmoralisches Verhalten, das durch materielle Interessen bestimmt ist. Also durch die von Brecht besungenen schlechten Verhältnisse in der Gesellschaft. Wenn ein Banker Hausbesitzer und Sparer ruiniert, kann er trotzdem ein liebevoller Familienvater sein und sich für einen guten Menschen halten. Er ist ja nur ein Rädchen im Getriebe. Er muss tun, was sein Arbeitgeber verlangt, was im Interesse seiner Bank und des Marktes notwendig erscheint.
Das Böse ist dagegen frei von wohlberechnetem Eigennutz. Der Amokläufer und der Selbstmordattentäter vernichten am Ende sich selbst. Sie schlagen blind um sich. Die Nazis haben nicht nur Millionen Juden umgebracht, sondern sich selbst mit in den Untergang gerissen.
Der ratlose Beobachter hält das Böse leicht für eine dämonische Macht, die im Innern einiger Psychopathen wütet. Doch wäre das Böse angeboren, hätten wir es mit einer Krankheit zu tun. Der Täter wäre für seine Taten nicht verantwortlich. Aber Hitler & Co. waren nicht verrückt. Geisteskranke wären nicht fähig gewesen, den Massenmord so systematisch und erfolgreich zu organisieren. Dazu brauchten sie klares Denken und bürokratische Talente.
Das Böse ist vielmehr erworbene Destruktivität. Die Wut und Verzweiflung über die Lebensumstände verwandelt das Böse in die von Jaspers beschriebene Lust an der Zerstörung. Die böse Wirklichkeit muss bestraft werden!
Religiöse Fanatiker sehen das Böse als Folge der Abkehr von Gott. Und erzeugen in ihrem Kampf gegen die böse, atheistische Wirklichkeit noch mehr Böses. Ist alles erlaubt, wenn es keinen strafenden Gott mehr gibt? Dieser Meinung von Nietzsche entgegnete der scharfsinnige französische Analytiker Jacques Lacan: Im Gegenteil! Ohne Gott ist nichts mehr erlaubt. Denn eine Erlaubnis geben kann nur, wer sie auch verweigern kann.
Die Gesellschaft macht keine eindeutigen Vorgaben. Es gibt kaum eine moralische Norm, die nicht so oder auch anders ausgelegt werden kann. Subkulturen pflegen ihre jeweils eigene Moral. Ob ich gut oder böse handle, liegt in meiner Eigenverantwortung. Daraus folgt auch: Wer gut handelt, ist nicht automatisch ein guter Mensch. Und umgekehrt: Wer böse handelt, muss kein böser Mensch sein. Raffgierige Kapitalisten spenden für gute Zwecke. Sie tun es aus Eigennutz, für ihren Ruf. Trotzdem hilft die Spende Menschen in Not.
Das Böse ist also keine finstere Macht aus einem Paralleluniversum. Es ist eine Handlungsoption, die in der Mitte unserer Gesellschaft blüht und gedeiht.
Mehr Informationen bietet unser Buchtipp:
Terrry Eagleton: Das Böse. Ullstein, Berlin 2010, € 18;–
Lesen Sie bei uns auch:
Amok Psychologie der Blutrausch-Mörder
Veröffentlicht im Dezember 2011 © by www.berlinx.de
Hinterlasse einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar schreiben zu können.