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Widersprüche er­kennen und meistern

Überall treffen wir auf Gegen­sätze und Kon­flik­te. Die Philo­so­phie hat eine Denk­me­thode entwi­ckelt, um all je­ne Pro­ble­me in den Griff zu be­kommen, die sich nicht mit ei­ner ein­fachen Ver­hal­tens­regel lö­sen las­sen.

In der Antike ent­stand die Dia­lektik als Kunst, durch geschickte Argumen­tation Gegner aufs Glatteis zu führen. „Kunst der Unter­redung“ lautet die Über­setzung von „Dialektik“ aus dem Altgriechischen. Hegel machte vor 200 Jahren daraus eine Denkmethode über Widersprüche.

Im logischen Denken sind Wider­sprüche verboten. Eine Sache und ihr Gegenteil können nicht gleichzeitig wahr sein. Entweder scheint die Sonne oder sie scheint nicht. Entweder liebt er sie oder er liebt sie nicht. Entweder ist ein Politiker ehrlich oder er ist es nicht.

In der Wirklichkeit sind die Dinge nicht so klar. Er liebt sie zeitweise – zu anderen Zeiten würde er ihr am liebsten den Hals umdrehen. Ein bestimmter Politiker ist von Natur aus eine ehrliche Haut, aber die Partei­raison zwingt ihn, die Dinge zu beschönigen. Die Sonne scheint zwar, aber der Himmel ist wolken­verhangen.

Als Nichtphilo­sophen begnügen wir uns damit, die Unklarheiten zur Kenntnis zu nehmen. Für den Dialektiker ist diese Analyse nur ein Anfang. Er fügt weitere Denkschritte hinzu:

  • These: Um welche Einzelheit geht es?
  • Negation: Wie bringt diese Einzelheit ihr genaues Gegenteil hervor?
  • Synthese: Wie entsteht aus der Wechselwirkung beider etwas Neues?

Nehmen wir als Beispiel die (Un-)Ehrlichkeit eines Politikers. Ehrlichkeit ist ein Teil der Moral. Wir denken dabei an Tugenden wie

  • Die Wahrheit sagen, auch wenn sie unbequem ist
  • Sich keine unlauteren Vorteile auf Kosten Gutgläubiger verschaffen
  • Auf einen Gewinn, der nur durch Betrug zu erlangen ist, lieber verzichten.

Doch schon in dem Moment, wo wir über die Bedeutung von „Ehrlichkeit“ nachdenken, haben wir auch ihr Gegenteil, die Unehrlichkeit, im Kopf. Wenn es auf der Welt nur Ehrlichkeit gäbe, brauchten wir diesen moralischen Begriff gar nicht. Die ganze Moral wäre überflüssig, wenn wir nicht ständig gegen ihre Gebote verstoßen würden. Sobald Sie fragen: „Ist dieser Politiker ehrlich?“ denken wir nicht nur an die Ehrlichkeit, sondern gleichzeitig auch an ihr Gegenteil, ihre Negation. Unser Denken bewegt sich im Schema des Entweder-Oder.

Doch das Entweder-Oder ist starr. Man ist entweder ehrlich oder eben nicht – und zwar für alle Zeiten. Aber im Alltag befinden wir uns in ständiger Veränderung – im Werden. Ich habe mir eine Lüge erlaubt und bin prompt ertappt worden. Beim nächsten Mal bin ich vorsichtiger. Ich bleibe bei der Wahrheit – solange bis clevere Betrüger mich über den Tisch ziehen. Jetzt zahle ich es Ihnen auf die gleiche Weise heim, und eine Weile geht das auch gut. Am Ende bin ich ein erfahrener Geschäftsmann, der Wahrheit und Lüge flexibel handhabt.

Ist jemand, der nur einmal lügt, schon ein Lügner? Rigorose Moralisten denken so. Der Dialektiker dagegen sieht die Gegensätze in Bewegung. Er sagt nicht Entweder-Oder, sondern Sowohl-als-auch. Lebenserfahrung lehrt uns, flexibel zu reagieren. Der diplomatische Umgang mit Wahrheit, Notlügen und angenehmen Komplimenten ist eine Synthese der Gegensätze Ehrlichkeit und Unehrlichkeit auf alltagspraktischem Niveau.

Wollen Sie die Dialektik für sich nutzen, begnügen Sie sich nicht mit einem starren „So ist das!“ oder „So hat das zu sein!“ Überlegen Sie vielmehr: Wenn die Sache so zu sein scheint – wie wäre es, wenn ihr Gegenteil gültig wäre? Finde ich Anzeichen, das beide Gegensätze zugleich auftreten? Kann es sein, das ein Verhalten das gegenteilige Verhalten hervorbringt –  entweder beim Partner oder bei diesem Menschen selbst? Was entsteht Neues, wenn er die Widersprüche auslebt? Und was sagt uns seine innere Widersprüchlichkeit über die Widersprüche in der Welt da draußen?

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Veröffentlicht im November 2011 © by www.berlinx.de

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