Je größer der Wohl­stand, desto größer die Äng­ste alles zu ver­lieren. Ein kom­for­tables Dasein für die Mehr­heit gibt erst seit weni­gen Jahr­zehnten. Angst als Lebens­thema ist folg­lich auch erst im 20. Jahr­hun­dert in das Zen­trum der Philo­sophie gerückt.

„Es gibt nichts Gefähr­licheres als das Leben. Es endet garan­tiert tödlich.“ Dieses Bonmot weist auf ein Paradox unseres Daseins hin. Wir bekommen das Leben geschenkt, nur um es eines Tages wieder zu verlieren. Existenz­angst greift an den Kern des Daseins. Im Alltag fürchten wir uns vor konkreten Dingen – Spinnen, Rasern hinterm Steuer oder einem Flugzeug­absturz. Doch auch wer von heute auf morgen den Partner oder seine Arbeit verliert, stürzt in tiefe Ängste. Was wird die Zukunft bringen? Drohen Armut und die totale Vereinsamung?

Wer diesen Gedanken zu Ende führt, muss sich eingestehen, dass die eigene Zukunft auf jeden Fall mit dem Tod endet. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, dass um seinen Tod weiß. In früheren Jahrhunderten ertrugen unsere Vorfahren dieses Wissen mit Schicksals­ergebenheit. Sie hofften auf Erlösung im Jenseits. Ein echter Trost war das auch nicht. Studien zeigen, dass sich religiöse Menschen genauso vor dem Tod fürchten wie Atheisten. (Mehr dazu in unserem Beitrag über Glauben.) Allerdings war das Leben damals so gefährdet, Elend und Not so verbreitet, dass der Tod als stets gegenwärtig und als Erlösung erschien.

Paradoxerweise wächst die existen­tielle Angst heutzutage, weil unser Leben sicherer geworden ist. Mehr als 90 Prozent von uns können ein hohes Alter erreichen – ohne Hunger und gesundheitlich versorgt.  Der Tod wirkt unter diesen Umständen wie eine Kata­strophe, die in den ange­nehmen Alltag einbricht. Da niemand im Voraus weiß, wann sein letztes Stündchen schlägt, bleibt viele Jahre Zeit, sich vor dem Ende zu fürchten.

Doch die Todes­furcht ist nur ein Element der Existenz­angst. Auch der mögliche Verlust anderer wichtiger Lebens­güter kann Existenz­angst auslösen. Dazu gehören vor allem:

Ängste vor sozialem Verlust. Ein anerkanntes Mitglied der sozialen Gemeinschaft sein ist wichtig wie nie. Der Verlust des Jobs, des Ehepartners, des guten Rufs oder der Zahlungs­fähigkeit können mich plötzlich zum Außenseiter stempeln. Oft haben wir keinen oder nur wenig Einfluss auf solche Ereignisse. Daher schwebt die Angst vor dem sozialen Aus ständig wie ein Damokles­schwert über unserm Haupt und hindert uns am unbeschwerten Lebens­genuss.

Versagensängste. Das Leben ist eine ständige Prüfung. Im Wettbewerb mit Konkurrenten müssen wir ständig unsere Kompetenz beweisen. Überall lauern Aufsteiger, die uns gern ausstechen möchten. Selbst die Partner­wahl hat sich dank Partner­börsen im Internet zu einer Prüfung entwickelt, in der wir unbekannte Konkurrenten überrunden müssen.

Daseinsohnmacht. Noch nie war die Gesellschaft so komplex. Zahlreiche Vorschriften und Institutionen können uns ein Bein stellen. Dagegen sind die eigenen Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen oder gar etwas zu verändern, gesunken. Die Finanzkrise hat gezeigt, wie leicht man mit windigen Verspre­chungen um seine Alters­versorgung gebracht werden kann.

Lebensängste. Wo das sichere Leben als Norm gilt, wächst die Furcht vor Krankheit und Tod. Nicht allein das körperliche Leiden macht Angst, sondern auch die Sorge, Angehörige könnten sich zurück­ziehen. Man könnte auch wegen der Krankheit seine Arbeit verlieren und auf den Kosten sitzen bleiben, weil das Gesundheits­system sparen muss. Das Ergebnis ist eine unklare Angst vor dem Alter und einer Zukunft, in der es eigentlich nur noch bergab gehen kann.

Reiche fürchten vor allem überfallen, erpresst, gekidnappt und von Betrügern um ihre Habe erleichtert zu werden. Um das nackte Überleben sorgten sich bislang nur Arme und Obdachlose. Inzwischen hat diese Angst auch die Mittelschicht erreicht. Die Angst, die laufenden Kosten nicht mehr aufbringen zu können, zieht die Furcht nach sich, in die Schuldenfalle zu geraten und von dort ins Elend. Zahlreich Studien zeigte, dass das Angst­niveau der Menschen schneller wächst als ihr Wohlstand. Obwohl der Lebens­standard ungefähr gleich geblieben ist, fühlen die Menschen ein stetige Verschlechterung. Schuld daran ist die gewachsene Existenzangst – eine Folge der zunehmenden Unsicherheit.

Drei Tipps, um Existenzängste zu bewältigen:

Nicht verdrängen. Gestehen Sie sich ein, dass Sie unter Ängsten leiden. Machen Sie Ihre Ängste konkret. Wenn Sie sich vor „der Zukunft“ fürchten – wovor genau? Der Feind, den man genau kennt, verliert seinen dämonischen Schrecken.

Aktive Gegenstrategien entwerfen. Wie könnten Sie gefürchteten Katastrophen vorbeugen? Leben Sie nicht am finanziellen Limit, sondern wählen Sie ein Anspruchs­niveau, mit dem Sie Reserven bilden können. Schauen Sie nach, wie Menschen das schaffen, die weniger als Sie verdienen.

Neugier statt Grübeln. Lassen Sie los, was Ihnen Sorgen macht. Wo haben Sie Spielraum? Wo liegen ungenutzte Möglich­keiten, Ihr Schicksal zu gestalten? Eine komplexe Gesellschaft wie die unsere bietet nicht nur Stolper­steine, sondern auch mehr Chancen als eine eindimen­sionale Diktatur. Um sie zu finden, benötigen Sie ein gehörige Portion Neugier auf Lebensbereiche, die Sie bisher nicht beachtet haben.

Unsere Buchtipps:
Martin Heidegger. Sein und Zeit. Niemeyer Verlag. € 24,–
Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Suhrkamp Verlag, € 12,50

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veröffentlicht im April 2010 © by www.berlinx.de

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