Wer sich einmischt, stärkt sein Ego

Der Begriff „Zivilcourage“ stammt von Bismarck. Der eiserne Kanzler beklagte sich einst, daß viele, die auf dem Schlachtfeld Mut bewiesen, Auseinandersetzungen im Alltag aus dem Wege gingen. EGONet sagt Ihnen, warum es lohnt, sich einzumischen.

In einer Umfrage des Münchner Instituts für Recht und Wirtschaft haben 86 Prozent aller Zeugen von Gewalttaten nicht geholfen. Als Gründe (Mehrfachnennungen waren möglich) nannten 66 Prozent Angst vor dem Täter. 86 Prozent fürchteten, daß sie statt einer Belohnung mit juristischen Konsequenzen zu rechnen hätten. Immerhin 16 Prozent nannten Gleichgültigkeit als Motiv. Bei der Frage, ob sie künftig helfen wollten, antworteten weniger als ein Viertel mit einem eindeutigen Ja.
 
In den Medien erheben Journalisten den moralischen Zeigefinger – häufig diejenigen, die von Berufs wegen eher bereit sind, eine Gewalttat zu filmen statt sie zu verhindern. „Rentner in U-Bahn zusammengeschlagen und ausgeraubt – zwanzig Fahrgäste schauten zu“ – wir lesen solche Meldungen mit Empörung, begreifen aber auf einmal, was in den Wegschauern vorgeht, wenn wir selbst in ihre Situation geraten. Dann fragen wir uns plötzlich: Ist das meine Aufgabe? Wo ist denn die Polizei? Hat nicht die Psychologin gestern im Fernsehen gesagt, man soll nicht den Helden spielen?
 
Um einzugreifen, muß man sich in das Opfer einfühlen können. Das fällt uns aus zwei Gründen zunehmend schwerer:
 
Die Anonymität. Wir kennen weder Opfer, noch Täter, noch die übrigen Zeugen. Dadurch ist sich jeder bewußt, daß er nur zufällig am Ort ist. Hätte er die S-Bahn davor erwischt, würde er von dem Verbrechen am nächsten Tag nur in der Zeitung lesen. Wer sich abwendet, muß keine Konsequenzen für seinen Ruf fürchten. Man sieht die Beteiligten höchstwahrscheinlich nie wieder.
 
Die Alltäglichkeit von Gewalt in den Medien. Die Rolle des Zuschauers ist uns längst vertraut. Wir haben tausend Mal Überfälle und Morde im Fernsehen beobachtet und mußten niemals eingreifen, weil ein Kommissar am Ende den Täter zur Strecke brachte.
 
Freilich, sollten wir eines Tages angegriffen werden, wird es uns genauso gehen. Die Unbeteiligten schauen weg. Sie erwarten, daß der Angegriffene sich selbst zu helfen weiß. Wenn nicht, hat er Pech gehabt. Schicksal. Jeder von den Zuschauern rechtfertigt seine mangelnde Zivilcourage vor sich selbst mit Argumenten wie:
  • Bei dieser Übermacht bin ich gar nicht in der Lage, einzugreifen.
  • Wenn ich mich einmische, bekommen ich bloß Ärger.
  • Vielleicht schätze ich die Situation falsch ein.
  • Wer weiß, was der andere angestellt hat, daß sie ihn angegriffen haben.
  • Warum helfen denn die jüngeren Kerle nicht, die da herumstehen?
 
Es ist wahr: Sich einmischen, ist gefährlich. Mut allein genügt nicht. Man muß auch wissen, wie. An diesem Wissen mangelt es meist. Dabei lohnt es, sich einige Grundsätze der kompetenten (Selbst-)Verteidigung zu kennen. Denn wer andere verteidigen kann, ist auch besser in der Lage, sich selbst zu schützen.
 
Spezialisten der Kriminalpolizei empfehlen:
Wenn Sie Zeuge massiver Gewalt werden, spielen Sie nicht den Helden. Gehen Sie nicht dazwischen – vor allem dann nicht, wenn sie der einzige Zeuge sind. Statt dessen Hilfe holen: Zum nächsten Telefon laufen, Polizei und Notarzt alarmieren, einen Autofahrer anhalten – je nach Situation.
 
Gewalt Bricht nie unvermittelt herein. Angreifer bauen sich zunächst vor ihrem potentiellen Opfer auf, provozieren es, pöbeln es an usw. Wirksame Hilfe ist möglich, wenn sich die Anwesenden im Vorfeld mit dem Opfer solidarisieren. Wenn Sie Derartiges beobachten, wenden Sie sich an die Leute neben sich und fragen: Gefällt Ihnen das, was sich dort vorbereitet? Wollen wir alle zusammen aufstehen und uns einmischen?
 
Besteht ein begründeter Verdacht auf permanente Gewaltanwendung in der Nachbarschaft (zum Beispiel Kindesmißhandlung), genügt schon ein anonymer Hinweis an das Jugendamt, um die Behörde zum nachforschen zu veranlassen. Eine offene Zeugenaussage ist natürlich besser. Jedes Jahr werden tausende Fälle von schweren Mißhandlungen nicht bekannt, weil Nachbarn schweigen aus Angst, es sich mit den Leuten zu verderben.
 
Eine Frau wird bedroht. Sie haben Angst, sich einzumischen. Es könnte ja sein, daß das Opfer gar keine Hilfe will und sagt, sie sollen sich zum Teufel scheren. Wenn Sie wissen wollen, ob eine echte Bedrohung vorliegt, fragen Sie: „Brauchen Sie Hilfe?“ Oft genügt schon die Drohung, daß Sie die Polizei rufen und als Zeuge aussagen werden.
 
Irgendwann haben Sie sicher schon einmal geholfen oder einfach jemanden in seine Schranken verwiesen. Waren Sie nicht hinterher froh und ein bißchen stolz, daß Sie sich überwunden haben? Zivilcourage macht aus uns keine Superhelden. Häufig erntet man nicht einmal Belohnung oder Anerkennung. Aber sie erspart uns das schlechte Gewissen und den Zwang, vor uns selbst Ausreden erfinden zu müssen, weil wir den Kopf eingezogen und einen andern in seiner Not allein gelassen haben. Wer den Mund aufmacht, ragt aus der Masse heraus und fühlt sich als der bessere Mensch. Man lernt über den eigenen Schatten zu springen. Dieser Gewinn für das eigene Ego sollte nicht unterschätzt werden. Zivilcourage macht uns stark und selbstbewußt. Sie zeigt uns, daß wir unserer Umgebung gar nicht so ohnmächtig gegenüberstehen wie wir oft dachten.

Mai 1999 © by www.berlinx.de

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