In den letzten Jahren hat Egonet mit Artikeln über Psychologie, Kommunikation, Lebensstil, Individualität, den freien Willen, Lebenskunst und Glück gelegentlich Ausflüge ins Reich der Philosophie unternommen. Daraus wollen wir in den kommenden Monaten eine feste Gewohnheit machen.
Philosophie? Heutzutage? Haben nicht längst die exakten Wissenschaften die Wahrheitssuche für sich gepachtet? Vor allem die Hirnforscher werden in den Medien gern zum Interview gebeten, wenn es um klassische Themen der Philosophie geht – was Bewusstsein ist, wie man richtig denkt, ob wir einen freien Willen haben oder Spielball fremder Mächte sind.
Doch dahinter steckt ein Trugschluss. Seit dem 18. Jahrhundert hören wir immer wieder, das Ende der Philosophie sei nahe. Sogar von Philosophen selbst. Zum Beispiel von den Positivisten. Diese Richtung war im 19, und Anfang des 20. Jahrhunderts stark in Mode. Sie verkündeten, philosophisches Denken sei veraltet, Wahrheit könnten nur die „positiven“ Wissenschaften liefern. Heute gilt der Positivismus als altmodisch, Philosophie wieder als modern.
„Philosophie“ bedeutet wörtlich „Liebe zur Weisheit“. Kann man mit bloßen Denken noch Wahrheiten finden? Ist die moderne Naturwissenschaft, die sich auf Experiment und Technik stützt, dem Selbst-Denker nicht himmelhoch überlegen? Vielleicht kann die Philosophie nur in einigen esoterischen Randgebieten überleben, die bis jetzt von den exakten Wissenschaften noch nicht erobert worden sind. Ist Philosophie lediglich eine Art weltliche Religion?
Keineswegs. Die Philosophie erfüllt Aufgaben, die den Wissenschaften verschlossen bleiben. Beide Denkformen sind nur scheinbar Konkurrenten. Wissenschaft erforscht die äußere Realität, und zwar die allgemein gültigen Regeln, nach denen die Wirklichkeit funktioniert. Diese Realität kann auch der Kosmos, aber auch das Bewusstsein unserer Mitmenschen sein. Und Philosophie?
Philosophie denkt über die Wissenschaften nach. Sie fragt zum Beispiel, was Wissenschaften leisten können und was nicht, wie man sie vor Missbrauch schützt, was in der Forschung erlaubt sein sollte und welche Gefahren in ihr lauern. Wichtige Felder der Philosophie sind dabei Ethik, Logik, Erkenntnislehre und Dialektik (Nachdenken über Widersprüche).
Philosophie denkt über Individuelles nach. Wissenschaft kann zwar erforschen, welche Verhaltensweisen im Allgemeinen Menschen glücklich machen. Aber ob es in meinem speziellen Fall nicht besser ist, bewusst gegen diese Regeln zu verstoßen, um mein persönliches Glück zu finden – um das herauszufinden, brauche ich Philosophie.
Philosophie ist die Kunst des Fragens. Die Philosophie hat in ihrer mehr als zweitausendjährigen Geschichte nur wenige Probleme gelöst. Aber sie hat die meisten der Fragen aufgeworfen, an denen sich die Forscher bis heute die Zähne ausbeißen. Nicht durch Lösungen, sondern durch kluges Fragen bringt Philosophie die Erkenntnis voran.
Philosophie ist Anleitung zum kritischen Denken. Sie stellt in Frage, was „jedermann“ glaubt. Ein wunderbares Training philosophischen Denkens besteht in folgenden einfachen Schritten:
- Stellen Sie eine Liste von zehn plausiblen Sätzen auf. Von „Geld allein macht nicht glücklich“ bis „Gemeinsam geht alles besser“.
- Nehmen Sie probeweise an, diese Sätze seien falsch. Gäbe es dafür Gründe und Belege?
- Bauen Sie mit ihnen eine Argumentation auf, die den üblichen Denkmustern entgegen läuft.
- Starten Sie nun ein Gedankenexperiment: Lassen Sie die plausible und die alternative Denkweise gegeneinander argumentieren.
Es kommt nicht darauf an, welche Denkweise bei Ihnen am Ende gewinnt. Sondern sich anzugewöhnen, Plausibles kritisch zu hinterfragen. In den kommenden Monaten wird Egonet philosophische Streifzüge in klassische Probleme und in aktuelle Diskussionen unternehmen. Wir werden Denkalternativen aufzeigen und Ihnen Anregungen liefern, um sich Ihre eigene, kompetente Meinung bilden zu können. Und vor allem, sie immer wieder in Frage zu stellen.
veröffentlicht im September 2008 © by www.berlinx.de
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