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Liebe, Krankheit, Erfolg und Miss­erfolg – vor­her­bestimmt oder alles blinder Zufall? Egonet über die Mäch­te, die unsere Bio­gra­phie for­men.

Andrea trifft aus­ge­rech­net vor dem Ar­beits­amt mit Lu­kas die Lie­be ihres Le­bens. Karl hat sein ganzes Leben Kette geraucht und feiert seinen 93. Geburtstag. Bettina hat nie geraucht, aber erkrankt mit 65 an Lungenkrebs. Markus bricht sich beim Fußball sein linkes Bein und kann beim Endspiel seiner Mannschaft nicht dabei sein. Glück im Unglück: Er wird vom Wehrdienst zurückgestellt. Als ihm der Gips abgenommen wird, erfährt er, dass die Bundesregierung inzwischen den Wehrdienst ausgesetzt hat.

Zufälle oder Schicksal? Warum trifft den einen ein schwerer Schicksalsschlag, während andere immer wieder davonkommen? Die Pechvögel fragen sich dann: „Warum gerade ich?“ Aber ist es wirklich Pech? Schlägt das Schicksal blind zu? Oder teilt es Strafe und Unglück im Auftrag einer höheren Gerechtigkeit zu, deren Walten wir nicht begreifen?

Die alten Griechen glaubten an das blinde Schicksal in Gestalt von Göttern, denen sie viele Namen gaben, zum Beispiel Moira, Tyche, Ate oder Ananke. Auch die Römer glaubten an ein unerbittliches Fatum. Im Christentum trat die Vorsehung an ihre Stelle. Über unser Leben sollte eine höhere Planung entscheiden. Der Lebenslauf jedes einzelnen war vorherbestimmt, Selbstbestimmung eine Illusion.

Dieser Glaube lässt jedoch an einer höheren Gerechtigkeit zweifeln. Warum konnte Stalin Millionen in sibirischen Lagern umbringen, selbst aber hochgeehrt in seinem eigenen Bett sterben? Kinder, die noch nie jemandem etwas getan haben, verhungern, während reiche Zyniker ungestraft ein Leben in Saus und Braus führen.

Ist Schicksal nur ein Aberglaube? Dieser Meinung war Schopenhauer. In seiner Schrift „Über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen“ schrieb er, es sei „dem bloßen, reinen, offenbaren Zufall eine Absicht unterzulegen, ein Gedanke, der an Verwegenheit seinesgleichen sucht“. Doch wir nennen nicht jeden Zufall schicksalhaft. Um als Schicksal zu gelten, schrieb der Soziologe Erving Goffman, muss ein Ereignis zwei Bedingungen erfüllen. Es ist:

  • unsicher
  • folgenreich

Unsicherheit: Viele Zufälle sind durchaus berechenbar. Der Klassiker ist der Lottogewinn. Die Chance für den Hauptgewinn beträgt 1 zu 14 Millionen, für den Jackpot sogar nur 1 zu 140 Millionen. Wer gewinnt, ist Zufall, dass es aber einer von 14 Millionen Mitspielern sein wird, ist sicher. Der glückliche Gewinner verdankt seine Millionen einer Zufallskombination von Zahlen – und den Verlierern, die mit ihren Einzahlungen seinen Gewinn finanzieren. Wer von den vielen Mitspielern der Gewinner sein wird, ist aber unsicher. Für ihn kann das Spielergebnis zum Schicksal werden. So wie viele Zufälle im Leben, die nicht berechenbar sind: der Liebe im Bus begegnen, auf einer Party einen Job angeboten bekommen, eine Münze auf der Straße finden, auf der Fahrt in den Urlaub eine schwere Autopanne erleben, einen Herzinfarkt ausgerechnet im Wartezimmer des Kardiologen bekommen.

Folgenreichtum: Die meisten Zufälle sind ohne Folgen für unser Leben. Zum Beispiel die auf der Straße gefundene Münze. Wenn ich aber den Glücksfall mit einem Eisbecher im nächsten Café feiere und dort der Liebe meines Lebens begegne, wird der Münzfund folgenreich. Was aber folgenreich sein wird, hängt vom Verhalten jedes Einzelnen ab. Häufig ist ein Zufall dann folgenreich, wenn er nur schwer korrigiert werden kann. Krankheiten, denen eine dauernde Behinderung folgt, gelten als Schicksal. Werden sie vollständig geheilt, heißt es „Glück gehabt“.

Unsere moderne Gesellschaft strebt danach, das Schicksal aus dem Leben weitgehend auszuschließen. Die wichtigsten Vorkehrungen sind:
Vorsorge: Wir setzen Institutionen wie die Wissenschaft oder Versicherungen ein, um Folgen unseres Tuns abzuschätzen und schicksalhaften Konsequenzen im Vorfeld abzuwehren. Je langfristiger wir denken, desto besser können wir negative Folgen klein halten.
Körperlicher Schutz: Durch Medizin, sichere Autos oder Schutz am Arbeitsplatz versuchen wir, Gefahren und mit ihnen schicksalhafte Unfälle zu vermeiden.
Umgangsformen: Die Zeiten, da Beleidigungen offen und mit Waffen ausgetragen wurden, sind vorbei. Duelle, Fehden und Blutrache haben wir durch Höflichkeit und Distanz ersetzt.

Literatur:
Erving Goffmann: Interaktionsrituale. Suhrkamp Taschenbuch, € 14,–
Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena I. Suhrkamp Taschenbuch, € 19,–
Hermann Meyer: Die Gesetze des Schicksals. Goldmann Taschenbuch € 7,95

veröffentlicht im April 2011 © by www.berlinx.de

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