Können Sie Gefahren richtig einschätzen?
SARS in Fernost, Busunglücke in Ungarn und Deutschland – wie soll man sich verhalten? Zu Hause bleiben? Alle Warnungen in den Wind schlagen? Oder den Empfehlungen der Experten folgen? Weder – noch. Die wahren Risiken lauern nämlich ganz woanders. Nur haben wir Probleme zu erkennen, wo es wirklich gefährlich wird.
Erinnern Sie sich noch, als Sie vor einigen Monaten in den Nachrichten von dem gefährlichen Acrylamid gehört haben, das in gebackenen und gerösteten Nahrungsmitteln lauert? Ob die fettigen Pommes frites oder das magere Knäckebrot – in beiden lauert die Krebsgefahr. Was war Ihre erste Reaktion? Gut, dass ich das weiß, in Zukunft lasse ich die Finger von dem Zeug? Oder eher: Alles Quatsch, mein Opa hat täglich Gegrilltes gegessen und ist 93 geworden?
Inzwischen gaben die Experten Entwarnung. Zwar löst Acrylamid, das beim Erhitzen aus Zucker und Aminosäure entsteht bei Ratten Krebs aus. Da der Mensch sich im Laufe der Evolution an erhitzte Speisen angepasst hat, ist sein Organismus weitgehend geschützt. Nur in reiner, hochdosierter Form ist es auch für den Menschen giftig. Neue Studien konnten keinen direkten Zusammenhang zwischen Krebsrate und gerösteten Speisen zeigen.
Aber Acrylamid lieferte nur eines von vielen Horrorszenarien, die täglich unsere Selbstsicherheit erschüttern. Klimaerwärmung, UV-Strahlung, Flugzeugabstürze, BSE – wovor soll ich mich zuerst schützen? Der Soziologe Ulrich Beck prägte 1986, im Jahr der Katastrophe von Tschernobyl, den Begriff „Risikogesellschaft“. Seine These: Wir müssen uns auf ein Leben mit zunehmenden Gefährdungen einstellen. Sicherheit gibt es nicht mehr.
Von Benjamin Franklin, Erfinder des Blitzableiters und einer der Väter der amerikanischen Unabhängigkeit, stammt der Satz: „Nichts ist gewiß in dieser Welt außer dem Tod und den Steuern.“ Wie hoch aber ist unsere Gefährdung wirklich? Psychologen zeigten in zahlreichen Studien, daß unsere subjektive Risikowahrnehmung und die tatsächliche Gefährdung weit auseinander klaffen.
Wir überschätzen Gefahren, die sich unserer Kontrolle entziehen. Worauf wir keinen Einfluß nehmen können, scheint uns besonders gefährlich. Wir fühlen uns diesen Dingen schutzlos ausgeliefert. So mancher greift zu teuren Bioprodukten, weil er sich vor Pestiziden fürchtet. Auch die Information, daß in „normalen“ Früchten die Belastung weit unter jeder Gefahrengrenze liegt, ändert nichts an der Angst. Sogar die Information, daß in Bioprodukten aufgrund der Anbaubedingungen häufig weniger Vitamine enthalten sind als in industriell angebautem Obst und Gemüse, ändert an dem Vorurteil („bio = gesund“) nichts.
Wir unterschätzen Gefahren, auf die wir Einfluß haben. Das weitverbreitetste Risiko ist das Rauchen. An ihm sterben jedes Jahr Millionen. Raucher halten jedoch ihr Risiko für sehr gering. Sie haben „alles im Griff“. Der eine sagt: „Dafür fahre ich täglich mit dem Fahrrad.“ Der andere meint: „Meine Großtante ist Kettenraucherin und immerhin schon 86.“ Ein dritter erklärt: „Vielleicht werde ich vorher vom Blitz erschlagen.“ Daß die Todesrate durch Blitze nur ein Bruchteil der Todesrate durch Nikotin beträgt, weiß er auch. Aber er ist ja life dabei und behält den Überblick, während die Gefährdung zunimmt. Das ergibt die Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Übrigens geht es nicht nur Rauchern so. Auch Übergewichtige, Magersüchtige oder Leute, die ihr Geld in riskanten Aktienkäufen verspielen, werden Opfer der Kontrollillusion.
Wir berücksichtigen die Schwere des möglichen Schadens, aber nicht die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses. Die Statistik sagt: Sie müssten 29000 Jahre lang täglich einmal fliegen, um einmal mit dem Flugzeug abzustürzen. Um mit dem Auto garantiert tödlich zu verunglücken, reichen wenige hundert Jahre. Dennoch fürchten wir das Flugzeugunglück mehr. Der Grund: ein Flugzeugabsturz verursacht einen viel größeren und auffälligeren Schaden. Ein anderes Beispiel sind Impfungen. Es besteht ein gewisses Risiko, an der Impfung selbst zu erkranken. Das ist für viele ein Grund, sich (oder die Kinder) nicht impfen zu lassen. Aber dieses Risiko beträgt nur ein Bruchteil der Gefahr, der Krankheit zum Opfer zu fallen, vor der die Impfung schützt.
Wir überschätzen „unsinnliche“ Gefahren. Was wir nicht riechen, schmecken, sehen oder hören können, erscheint uns unheimlich und deshalb tausendfach gefährlicher. Nach dem Unglück von Tschernobyl fürchteten sich die meisten mehr vor verstrahlten als vor giftigen Pilzen – tatsächlich starben aber auch nach 1986 Pilzesser fast ausschließlich durch Verwechslung von Champignons mit Knollenblätterpilzen. Von der Furcht vor unsichtbaren Strahlen lebt eine gut verdienende Exoterikindustrie.
Wir überschätzen technische und unterschätzen gesundheitliche Risiken. Für Statistiker ist die Sache klar. Autofahren ist gefährlich. Aber nicht wegen der tödlichen Verkehrsunfälle, sondern wegen des Mangels an körperlicher Bewegung. An Autounfällen sterben pro Jahr in Deutschland knapp 7000 Menschen. An Folgen von Bewegungsmangel mindestens zehn Mal so viele.
Wir unterschätzen das eigene und überschätzen das fremde Risiko. Am gefährlichsten ist aber der Glaube „Mir kann nichts passieren.“ Unglücke passieren immer nur den anderen. Extremsportler sind das beste Beispiel. Sie glauben durch die Bank, durch ihre persönliche Vorsicht und Ausbildung geschützt zu sein. Wenn ein anderer verunglückt – der war eben leichtsinnig. Unkalkulierbare Risiken fallen unter den Tisch. Noch verrückter ist aber dieser Optimismus, wenn es ums Rauchen, Trinken und andere Alltagsrisiken geht. Wieso soll der Raucher nebenan ein höheres Infarktrisiko haben als ich selbst? Weil ich mein Herz und meine Rauchgewohnheiten kenne.
Wir unterschätzen das Risiko, das andere mit uns teilen. Wenn eine Gruppe sich die Verantwortung mit uns teilt, sind wir bereit, hochriskante Entscheidungen zu treffen. Die Gruppenmitglieder bestärken einander und reden sich gegenseitig die Zweifel aus. Geht es dennoch schief, bin ich nicht allein schuld. Diese Verzerrung der Realitätswahrnehmung unter dem Einfluß von Mitstreitern ist besonders gefährlich, wo verantwortliche Politiker und Militärs weitreichende Entscheidungen treffen.
Der beste Schutz: riskante Entscheidungen nicht allein aus dem Bauch heraus treffen. Zwar kann das, was der Bauch sagt, am Ende das Richtige sein. Es ist aber sinnvoll, zugleich auch objektive Informationen einzuholen und über die Gründe für die Abweichung zwischen beidem nachzudenken. Und allen sensationell aufgemachten Gefahrenmeldungen mit Skepsis zu begegnen.
Juli 2003 © by www.berlinx.de
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