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Fast jeder kennt Per­sonen, die unter pani­scher Angst vor Spinnen, Menschen­massen oder Flügen leiden. Doch niemand muss sich mit dieser Furcht abfinden.

Liest man die Auf­zäh­lung in dem ak­tuellen Buch des Münch­ner Psycho­analy­tikers Wolfgang Schmid­bauer, so gibt es nichts, wovor sich kein Mensch fürchtet. Rund 650 verschie­dene Phobien sind medi­zinisch aner­kannt. Haben Sie Angst, eine andere Meinung zu vertreten als die Mehrheit? Dann leiden Sie an Allo­doxa­phobie. Deren Auswir­kungen konnten wir beim Streit der Poli­tiker über den Ausgang der Wahl in Hessen beobachten. Oder haben Sie Angst vor schönen Frauen? Brigitte-Kolumnistin Julia Karnick vermutet, dass an dieser Kalligynephobie mehr Frauen als Männer leiden. Angst vor Überarbeitung (Ponophobie) oder nicht perfekt zu sein (Atelophobie) gelten in der modernen Berufswelt gar als gesund.

Ein Tabelle mit weiteren wichtigen Phobien finden Sie hier. Sie sehen darin, dass das Wort Phobie sehr unterschiedliche Ängste umfasst. Einige fürchten nur ein Einzelobjekt, das man leicht meiden kann. Andere ängstigen sich jedoch vor Grundformen menschlichen Zusammenlebens. Solche Phobien greifen tief in das soziale Leben und den Alltag ein. Die Furcht vor Schlangen beeinträchtigt in unseren Großstädten das Dasein kaum. Die Angst vor Menschenmassen schon.

Ausgangspunkt für eine Phobie sind in der Regel einige wenige negative Erlebnisse mit dem angstauslösenden Objekt. Wie eine Phobie entsteht, zeigte der Begründer der amerika­nischen Verhaltenspsychologie, John B. Watson, Anfang des Jahrhunderts in einem aufsehenerregenden und zugleich fragwürdigen Experiment. Als „Versuchskaninchen“ diente ihm ein elf Monate alter Knabe namens Albert, der Sohn eines Kollegen. Das Kind hatte ein weiße Ratte, wie sie von Medizinern und Biologen als Versuchstiere verwendet werden, zum Spiel­kame­raden. Albert hing sehr an dem Tier. Watson schlug von nun an jedes Mal, wenn der Knabe seine Ratte erblickte und die Hand nach ihr ausstreckte, direkt neben Alberts Ohr mit einem Hammer auf einen Eisenstab, so dass der Junge vor dem Knall zusammen­schreckte. Bereits nach einer Woche fing der Knabe an zu weinen, wenn er das Tier erblickte – auch ohne Hammerschlag. Watson stellte fest, dass das Kind sich inzwischen auch vor anderen fellbedeckten Objekten wie Kaninchen, Puppen mit Fell­jacke und sogar vor dem Bart des Nikolaus fürchtete. Auch nach einem Monat hielt der „Lerneffekt“ unvermindert an. In seiner Begeisterung für sein Experiment „vergaß“ Watson, dem kleinen Albert aus seiner Angst wieder herauszuhelfen. Über das weitere Schicksal des Jungen vermeldet die Fachliteratur nichts.

Einige Arten von Phobien waren schon im Altertum bekannt, aber durch gesellschaftliche Veränderungen entstehen auch neue Phobien. Die AIDS-Warnungen der achtziger Jahre hatten dafür gesorgt, dass in Deutschland nach kurzer Zeit mehr Menschen an einer AIDS-Phobie litten als an der Immunschwäche selbst. 50 bis 75 Prozent der Ratsuchenden bei den Gesundheitsämtern gehörten nicht zu einer Risikogruppe und haben sich auch nicht durch leichtsinniges Verhalten gefährdet. Sie unterzogen sich aber dennoch immer wieder einem Test aus Angst vor Ansteckung, oft schon nach einem einmaligen Seitensprung oder nach Erhalt einer Bluttransfusion.

Die meisten Menschen können mit ihrer Phobie leben, indem sie die angstauslösenden Objekte meiden und sie als eklig, unangenehm oder bedrohlich bezeichnen. Dadurch müssen sie sich nicht einzugestehen, dass ihre Angst in ihrer seelischen Verfassung begründet liegt. Wenn ein Ausweichen auf Dauer nicht möglich ist, gehen die Betroffenen zum Arzt, der ihnen ein angst­lösendes Medikament verschreibt. Besser ist eine Verhaltens­therapie wie die Systematische Desensibilisierung (nach Entspannung oder Meditation stellt der Patient sich die Angstsituation vor, bis sie keine Angst mehr auslöst) oder Reizkonfrontation.

Bei leichten Phobien kann man eine stufenweise Reizkonfrontation allein durchführen. Sie beruht auf dem Prinzip, sich nach und nach an die angstauslösende Situation zu gewöhnen. Der Betroffene sollte zunächst mit einem guten Freund über sein Angstobjekt sprechen und seine Ängste eingestehen, danach wird schrittweise Kontakt mit dem Angst­objekt aufgenommen. Zunächst betrachtet er Bilder des Objektes oder hört Geräusche, die mit ihm in Verbindung stehen. Später betrachtet er das Objekt selbst: Erst aus der Ferne, dann aus der Nähe – bis er schließlich in der Lage sein sollte, die Anwesenheit des Objektes auszuhalten oder es gar zu be­rühren und mit ihm umzugehen. Die Wirkung beruht darauf, dass der Phobiker sein Angstobjekt nicht mehr meidet, sondern sich seinen Ängsten und ihren Ursachen stellt. Bei schwereren Phobien darf die Reizkon­fron­tation auf jeden Fall nur unter der Kontrolle eines Fachmannes durchgeführt werden.

Mehr Informationen in:
Roger J. Callahan: Leben ohne Phobie. Wie Sie in wenigen Minuten angstfrei werden. VAK Verlags GmbH, € 15,50
Wolfgang Schmidbauer: Das Buch der Ängste. Von A bis Z. Blumenbar, € 14,90

Veröffentlicht im Mai 2008 © by www.berlinx.de

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